WAS UNSERE PARTEI KENNZEICHNET: Die politische Kontinuität von Marx zu Lenin bis zur Gründung der Kommunistischen Internationale und der Kommunistischen Partei Italiens (Livorno 1921); der Kampf der Kommunistischen Linken gegen die Degeneration der Kommunistischen Internationale, gegen die Theorie des “Sozialismus in einem Land” und die stalinistische Konterrevolution; die Ablehnung von Volksfronten und des bürgerlichen Widerstandes gegen den Faschismus; die schwierige Arbeit der Wiederherstellung der revolutionären Theorie und Organisation in Verbindung mit der Arbeiterklasse, gegen jede personenbezogene und parlamentarische Politik.


 

Die Ausgangssituation

Die Bundestarifkommission der Gewerkschaft ver.di hatte am 11. Oktober 2022 in Berlin ihre Forderungen für die Tarifrunde 2023 im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen beschlossen. So forderte die „Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft“ (ver.di) in Tarifunion mit der „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“ GEW und der IG BAU für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes eine Anhebung der Einkommen um 10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro monatlich bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Die Ausbildungsvergütungen und Praktikantenentgelte sollten um 200 Euro monatlich angehoben werden.

Soweit, so gut, könnten mensch denken! Die „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ (VKG) warnte allerdings bereits in einem Artikel am 12. Januar 2023 davor, dass die Gewerkschaften die Kämpfe abwürgen und die Beschäftigten mit faulen Kompromissen ruhigstellen könnten:

Wenn wir unsere Forderungen [...] durchsetzen, würde der Lohnverlust für 2023 verhindert. Wenn es allerdings so läuft wie in der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie, wäre auch bei Kommunen und Bund der Reallohnverlust bis Ende 2024 festgeschrieben, denn bei Metall wurden mehrere Fallen eingebaut und der Abschluss ist keineswegs so gut wie in den Medien dargestellt.“ Auch wir schrieben in der letzten Ausgabe unserer Zeitung über die mageren und schöngerechneten Tarifabschlüsse von 2022 („Krise, Krieg, Inflation, konzertierte Aktion – den Generalangriff auf die Arbeiter:innenklasse zurückschlagen!“). Wir haben stets die Tricks und Manöver der Regime-Gewerkschaften kritisiert, die „sozialpartnerschaftlich“ mit den Arbeitgeber:innen praktiziert wurden, mit dem Ziel, die Kämpfe zu sabotieren, deren Ausweitung zu verhindern und Kampffähigkeit und die selbstbewusste Organisierung der Beschäftigten zu untergraben, und damit größere oder gar sich ausweitende Kämpfe erst gar nicht aufkommen zu lassen. Wir haben immer betont , dass es notwendig ist, sich bereits im Vorfeld einer jeden Tarifauseinandersetzung dieser Tatsache voll und ganz bewusst zu sein. Die beschriebenen „Fallen“ wurden auch von der VKG in dem besagten Artikel klar benannt und werden deshalb an dieser Stelle von uns zitiert:

Falle Nr. 1: Die Laufzeit

Die Rechnung ist eigentlich einfach, aber in den Medien und seitens der Gewerkschaftsvorstände werden die Gesetze der Mathematik zeitweise durch phantastische Märchen ersetzt. Bei einem Abschluss mit zwei Jahren Laufzeit und einer Erhöhung von zweimal 5% gibt es mitnichten eine Entgelterhöhung von 10%, denn diese muss pro Jahr berechnet werden. Die Inflation macht keine Pause, die Preise steigen auf jährlicher Grundlage um rund 10%. Eine längere Laufzeit ist nichts anderes als ein Lohnverlust auf Raten.

Falle Nr. 2: Die Einmalzahlung

Die bis zu 3.000 Euro Einmalzahlung steuer- und abgabenfrei erscheinen vielen Kolleg*innen als der berühmte Spatz in der Hand. Es klingt echt, man hat es schon mal auf dem Konto, dringend benötigt für Nach- und Vorauszahlungen der Energie- und Nebenkosten. Doch die Einmalzahlung verpufft. Sie ist nicht tabellenwirksam. Die nächste Tarifrunde ein oder zwei Jahre später beginnt erneut auf einem niedrigen Niveau – denn die Arbeitgeber rücken die Einmalzahlung nur raus, wenn ver.di bei den Tabellen-Entgelten Zugeständnisse macht. Die Einmalzahlung zählt auch nicht bei der Berechnung von Krankengeld, Jahressonderzahlung, Arbeitslosengeld und Rente. Die Unternehmen sparen dadurch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge…“

Viel besser kann man das gar nicht formulieren – aber nun zum Arbeitskampf selber…

Warnstreiks und Verhandlungen

Am 24. Januar fand der erste Verhandlungstermin zwischen ver.di und den Arbeitgeber:innen statt, der aber ohne Ergebnis oder Arbeitgeberangebot vertagt wurde. Daraufhin folgten eine Reihe von Warnstreiks und Aktionen, die hier nur im Wesentlichen wiedergegeben werden können:

Am 27. Januar 2023 gab es eine TVÖD-Streikversammlung in Berlin mit hunderten Delegierten, die ihre Forderungen und ihre Kampfbereitschaft öffentlich demonstrierten und einen Kampfplan bis hin zu Erzwingungsstreiks präsentierten. Anwesend waren auch Vertreter:innen der Staatsparteien, die verbal einen Inflationsausgleich unterstützten - und, wie wir nur zu gut wissen, in der Realität das genaue Gegenteil forcieren! Außerdem wurde bereits der erste Warnstreiktermin für die Berliner Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes festgelegt: der 9. Februar, nur drei Tage vor den Wahlen zum Abgeordnetenhaus. Viele Beschäftigte waren wütend über das fehlende Angebot seitens der Arbeitgeber:innen.

Rund 3.000 Arbeiter:innen aus den landeseigenen Kliniken Charité und Vivantes, der Berliner Stadtreinigung und den Berliner Wasserbetrieben legten daraufhin am 9. Februar teils für zwei Tage ihre Arbeit nieder und folgten dem Aufruf zum Warnstreik; ebenso Arbeiter:innen in Hessen und Nordrhein-Westfalen, in Baden-Württemberg erfolgten die Warnstreiks einen Tag später.

Am 16. Februar legten die Arbeitgeber:innen ein erstes Angebot vor, welches aber weit hinter den Forderungen der Gewerkschaften zurückblieb. Auch die 2. Verhandlungsrunde zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber:innen am 22. und 23. Februar blieb trotz der deutlichen Zeichen der Mobilisierungsfähigkeit und Kampfbereitschaft erfolglos.

Am 17. Februar hatten Warnstreiks von ver.di an sieben deutschen Flughäfen für Tausende Flugabsagen gesorgt. Mehrere Flughäfen mussten den regulären Passagierbetrieb einstellen.

In mehreren Bundesländern wurde am 3. März der öffentliche Nahverkehr bestreikt.

Am 6., 7. und 8. März gab es dann weitere unterschiedliche Warnstreiks. Alleine in Berlin traten bei Charité und Vivantes, dem Jüdischen Krankenhaus, der BSR, den Wasserbetrieben, den Bäderbetrieben sowie bei zahlreichen Bundeseinrichtungen mehr als 6.000 Beschäftigte für zwei Tage in den Ausstand.

Am 13. März wurde am Berliner Flughafen gestreikt, am 14. März in den Brandenburger und Berliner Kliniken, die Berliner Kliniken setzten diesen Streik am 15. März fort.

Am 23. und 24. März rief ver.di die Beschäftigten und Auszubildenden des Öffentlichen Dienstes in Berlin zu einem ganztägigen Warnstreik auf. Es wurde aber auch wieder in der Charité, bei Vivantes - einschließlich der Vivantes Tochtergesellschaften - sowie am Jüdischen Krankenhaus gestreikt. Außerdem waren auch die Beschäftigten der Berliner Stadtreinigung und der Berliner Wasserbetriebe im Ausstand. Am 23. März streikten außerdem auch Beschäftigte der DRV Bund, der Arbeitsagentur und der Jobcenter sowie weitere Bundeseinrichtungen, Behala sowie die BVG-Auszubildenden. Auch in anderen Bundesländern gab es zahlreiche Warnstreiks.

Um vor der dritten Verhandlungsrunde im öffentlichen Dienst nochmals den Druck auf die Arbeitgeber:innen zu erhöhen, rief ver.di am 27. März die Beschäftigten an den Flughäfen, in kommunalen ÖPNV-Betrieben in sieben Bundesländern, in Teilen der kommunalen Häfen, der Autobahngesellschaft und der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zum Warnstreik auf.

Zusätzlich rief parallel die EVG die Beschäftigten aller Eisenbahn- und Verkehrsunternehmen, in denen zu diesem Zeitpunkt ebenfalls verhandelt wurde, zu einem ganztägigen Warnstreik auf. Endlich haben es ver.di und EVG mal geschafft, gemeinsam die Muskeln spielen zu lassen! Das nd vom 27. März schrieb hierzu: „Die Inflation macht energische Arbeitskampfmaßnahmen notwendig… Französische Verhältnisse sind das noch nicht, doch so nah sind die deutschen Gewerkschaften einem Generalstreik selten gekommen.“

Vom 27. bis 29. März 2023 fand dann die 3. Verhandlungsrunde in Potsdam statt. Da die Arbeitgeber:innen wieder kein neues Angebot vorlegten, erklärten die Gewerkschaften die Verhandlungen für gescheitert. Daraufhin leiteten die Arbeitgeber:innen die Schlichtung ein…

Und hier zeigt sich ein weiteres Problem: ver.di hat völlig unnötigerweise eine Schlichtungsvereinbarung mit den Arbeitgeber:innen abgeschlossen: Im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen (was ver.di ja hier erklärt hatte) findet ein Schlichtungsverfahren statt, wenn auch nur EINE Seite dieses verlangt; im Zweifel – und auch hier – sind das immer die mit Streik bedrohten Arbeitgeber:innen. In dieser Zeit gilt die sogenannte „Friedenspflicht“, das heißt, es sind keine weiteren Streiks mehr möglich, um die Arbeitgeber:innen weiter unter Druck zu setzen. Die paritätisch zwischen Arbeitgeber:innen und Gewerkschaften besetzte und extern moderierte Schlichtungsrunde erarbeitet einen „Kompromiss“ (-vorschlag), wodurch die Gewerkschaften öffentlich unter Druck gesetzt werden, größere Zugeständnisse zu machen.

Die Schlichtungsempfehlung

Und so sah dann die Schlichtungsempfehlung aus:

  • Für das Jahr 2023 soll es einen „Inflationsausgleich“ in Form einer Einmalzahlung in Höhe von insgesamt 3.000 Euro geben. Hierzu haben wir bereits eingangs alles Notwendige geschrieben: der Betrag geht nicht in die Rente ein und ist nicht tabellenwirksam. Das bedeutet eben, dass der Betrag für die folgenden Jahre verpufft, denn die Inflation ist ja nicht einmalig, sondern summiert sich immer weiter auf.
  • Darüber hinaus gibt es eine tabellenwirksame Erhöhung ab März 2024 in Höhe von 200 Euro plus 5,5%, insgesamt mindestens aber 340 Euro.

Das kann für eine frisch ausgebildete Pflegekraft in Vollzeit (P7, Stufe 2) durchaus etwa 12 Prozent mehr sein; allerdings über die Laufzeit von 2 Jahren.

Während die ver.di-Spitze diesen Vorschlag mit einem behaupteten tabellenwirksamen Erhöhungswert von durchschnittlich 11,5 % öffentlichkeitswirksam der Basis schmackhaft machen wollte (auf dem Blatt ansehnliche prozentuale Steigerungen zwischen 8 und 16 %), wurde bei genauem Hinsehen sehr schnell klar, dass das nicht stimmen konnte… Im Ergebnis bedeutete dieser Vorschlag bei einer Umrechnung auf die jährlichen Steigerungsraten als einzig relevanten Vergleichsmaßstab – und über die lange Laufzeit gerechnet – lediglich eine tabellenwirksame Entgelterhöhung von 4,79 % im gewichteten Mittel. Damit würde also – so war vielen Kolleg:innen beim Nachrechnen deutlich – ein weiterer Reallohnverlust eingefahren. ver.di selbst war noch im Dezember 2022 von einem bereits stattgefundenem Reallohnverlust von rund 7% für den Zeitraum von 10/20 bis 12/22 ausgegangen, dessen Ausgleich von Vornherein gar nicht zur Debatte gestellt wurde, weil als „Solidaritätsbeitrag der Beschäftigten in Krisenzeiten“ verstanden... – Solidarität mit wem…?!

Die von ver.di stattdessen behaupteten durchschnittlich 11,5% waren hingegen das Ergebnis eines Taschenspielertricks, denn sie basierten nur auf den 10 Monaten von 3 -12/24, für die sie auch vorgeschlagen wurden. Für die davor liegenden 14 Monate von 1/23 bis 2/24 war jedoch gar keine tabellenwirksame Erhöhung vorgesehen. Den Mitgliedern wurde also bewusst irreführendes Propagandamaterial vorgesetzt, und der Kompromiss als „quasi alternativlos“ verkauft.

Ausgehend von den ursprünglichen ver.di-Forderungen stand also tatsächlich unterm Strich nicht einmal die Hälfte als Ergebnis, auch wenn – zugegebener Maßen - die unteren Einkommensgruppen überproportional profitieren sollten. Von den ursprünglich geforderten und angesichts galoppierender Inflation auch nicht verhandelbaren 12 Monaten Laufzeit oder den geforderten 3.000 € ZUSÄTZLICHEN Inflationsausgleich, die eben NICHT in den Abschluss mit einfließen sollten, war zu diesem Zeitpunkt keine Rede mehr.

Die Tarifparteien einigten sich am 22. April 2023 auf diese Schlichtungsempfehlung. ver.di startete hierzu am 4. Mai – also erst nach zwei Wochen, in denen aber seitens des Apparates im oben dargestellten Sinne schon permanent und mit allen Mitteln die Werbetrommel für „Zustimmung“ geschlagen wurde! - eine Mitgliederbefragung, die bis zum 12. Mai lief, und in der ca. 66% der ver.di-Mitglieder, die teilnahmen, dem Schlichtungsergebnis ihre Zustimmung erteilten... Am 17. Mai 2023 nahm dann auch die Bundestarifkommission abschließend die Schlichtungsempfehlung als Tarifabschluss an…

Im Vorfeld der Mitgliederbefragung gab es innerhalb von ver.di eine große Unzufriedenheit und eine starke Kritik an dem Ergebnis. Die „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ (VKG) und das „Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di“ schrieben hierzu in einem Flugblatt unter dem Titel „Mit Streik wäre mehr drin! ‚Nein‘ zum Verhandlungsergebnis im öffentlichen Dienst“: „Diese Tarifrunde war bisher anders als andere. Das hat schon die enorme Beteiligung an den Warnstreiks mit 500.000 Kolleg*innen gezeigt… Dieses [Verhandlungsergebnis] reicht hinten und vorne nicht und sollte klar abgelehnt werden!“ Kritik wird vor allem am Ergebnis, das einen Reallohnverlust bedeutet sowie an der langen Laufzeit geübt (s.o.). Aber auch das Schlichtungsverfahren wird kritisiert: „Das gesamte Konzept der Schlichtung ist absurd. Denn im Verteilungskampf innerhalb des Kapitalismus kann es keine neutrale Instanz von außen geben. Entscheidend ist immer das Kräfteverhältnis, welches sich aus einem Arbeitskampf entwickelt. Hier muss auch betont werden, dass auch der von ver.di einbestellte Schlichter Hans-Henning Lühr nicht ‚neutral‘ ist, sondern über Jahrzehnte verschiedene Funktionen auf Seiten der kommunalen Arbeitgeber:innen inne hatte. Schlimm war in diesem Zusammenhang aber, dass die Vertreter*innen von ver.di innerhalb der Schlichtungskommission dieser Empfehlung auch noch geschlossen zustimmten.“

Auch in einer Resolution der „Versammlung der Berliner Team- und Streikdelegierten der TVöD Betriebe vom 20.4.2023“ wird unter dem Titel „Wir können mehr erreichen! Gemeinsam für die Rettung unseres öffentlichen Dienstes. Warum wir für die Ablehnung einer Einigung auf der Höhe der Einigungsempfehlung sind.“ eine ähnliche Position vertreten. Insgesamt war die Stimmung im gesamten linksgewerkschaftlichen Spektrum verärgert, wie wir auch am 1. Mai in einigen Diskussionen und anhand einiger Flugblätter feststellen konnten.

Resümee

Die Befürchtungen, wie diese Tarifrunde (wieder einmal) laufen könnte, haben wir gleich zu Beginn des Artikels vorweggenommen, und sie wurden auch im Vorfeld von vielen Seiten geäußert. Auch wenn im Wesentlichen diese Abläufe aus den vergangenen Jahrzehnten bereits hinreichend bekannt sind, müssen doch einige neue Faktoren herausgehoben werden: Dabei ist vor allem der Versuch der Wiederauflage der „Konzertierten Aktion“, erneut durch eine sozialdemokratisch geführte Regierung, zu nennen, deren Absprachen mit 3.000 € Inflationsausgleich und Erhöhungen im Volumen zwischen 4 und 6 % in den Tarifrunden von IG BCE, IGM, Post und dann auch im ÖD faktisch umgesetzt wurden. Das bedeutet nicht weniger als die Preisgabe der sonst immer so hochgehaltenen „Tarifautonomie“ und die Unterordnung der Mitgliederinteressen unter die als zur „nationalen Staatsräson“ aufgebauschten Politik der Bundesregierung, die mit ihrer Politik während und infolge der Coronapandemie und als mittlerweile aktive Kriegspartei die galoppierende Inflation und zunehmende soziale Spaltung selbst erst geschaffen hatte.

Darüber hinaus lässt sich aber positiv auch festhalten, dass die Stimmung in den Betrieben und an der ver.di-Basis größtenteils sehr kämpferisch, und die Beteiligung der Kolleg:innen an Streikaktionen sehr groß und teilweise sogar deutlich über den Erwartungen lag – mehr als 500.000 Kolleg:innen beteiligten sich alleine ver.di-seits an den diversen Arbeitskampfaktionen.

Der zweitägige parallele Streik von ver.di und EVG ließ deutlich erahnen, wozu die organisierte Arbeiter:innenklasse in der Lage wäre, würde sie ihre Macht als Klasse „an sich“ erkennen und nutzen…

In den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 – also parallel zu den dargestellten Streikaktionen verzeichnete ver.di mehr als 100.000 Neuaufnahmen und seit langem wieder einen Nettomitgliederzuwachs von mehr als 50.000. Das zeigt einerseits, dass Gewerkschaft sich nirgends so konkret zeigt und erlebt wie im Arbeitskampf und nie so attraktiv für auf abhängige Beschäftigung Angewiesene ist, als in Zeiten, in denen sie sich engagiert und kämpfend im Betrieb und auf der Straße zeigt – ein weiteres wichtiges Argument dafür, zurückzukehren zu Tarifvertragslaufzeiten von maximal 12 bis 18 Monaten.

Die auch individuell erlebte Stärke und Macht öffnete vielen beteiligten Kolleg:innen (im Nachhinein) die Augen: Viele sind mit dem Ergebnis und der überdeutlich erkennbar gewordenen „Befriedungspolitik“ des ver.di-Apparates konstruktiv unzufrieden und üben zunehmend in Versammlungen entsprechende Kritik. Viele wären dieses Mal außerdem bereit gewesen wären, auch noch weiter für einen besseren Abschluss zu kämpfen – immerhin verweigerte ein gutes Drittel der Befragten bei der Mitgliederbefragung dem Schlichtungsergebnis die Unterstützung! Wie auch in anderen Branchen machen sich mittlerweile erkennbar kritische Unzufriedenheit und Ernüchterung auch mit der Gewerkschaftsspitze und dem Apparat breit. Das ist eine notwendige – wenn auch (noch) nicht hinreichende – Voraussetzung für eine Veränderung des Bewusstseins und eine Wiederaufnahme des Klassenkampfes.

Es ist immer und überall notwendig, die Rolle der komplett in den Staat integrierten Regime-Gewerkschaften aufzuzeigen und dort, wo es möglich ist, Kämpfe zu führen, die sich deren Kontrolle entziehen, oder aber diese derart unter Druck zu setzen, dass sie der Wut der Beschäftigten nachgeben müssen. Schon Marx hatte vor über 150 Jahren, noch in der Anfangszeit der Gewerkschaften, als diese von den Arbeiter:innen als „Mittel zur Abwehr der ständigen Übergriffe des Kapitals“ gebildet worden waren, auf die perspektivische Rolle der „Gewerksgenossenschaften“ (die vor der Trennung von politischer Klassenpartei und unmittelbarer Klassenorganisation damals noch Teil der Ersten Internationale waren) hingewiesen. Er schrieb, dass die Gewerkschaften, ohne dass sie sich dessen bewusst werden, „Organisationszentren der Arbeiterklasse“ sind, und deshalb neben der Tagesarbeit im Betrieb („Guerillakrieg zwischen Kapital und Arbeit“), eine zentrale Bedeutung haben als „organisierte Kraft zur Beseitigung des Systems der Lohnarbeit selbst.“ Daraus folgerte Marx: „[Sie] müssen (...) lernen, bewußt als organisierende Zentren der Arbeiterklasse zu handeln, im großen Interesse ihrer vollständigen Emanzipation. Sie müssen jede soziale und politische Bewegung unterstützen, die diese Richtung einschlägt. Wenn sie sich selbst als Vorkämpfer und Vertreter der ganzen Arbeiterklasse betrachten und danach handeln, muß es ihnen gelingen, die Außenstehenden in ihre Reihen zu ziehen.“ (Karl Marx: Gewerksgenossenschaften. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Beschluss des Genfer Kongresses über die Gewerkschaften vom 06.09.1866, MEW Bd. 16, S.196f.)

Die vergangene Tarifrunde im ÖD hat exemplarisch gezeigt, wie richtig diese über 150 Jahre alten Feststellungen auch heute noch sind: Wie sehr Gewerkschaft in Bewegung und Arbeitskampf ihre Macht als Organisation der Klasse entfaltet, wie schnell diese Macht aber auch wieder verpufft, wenn sie nicht mit dem Ziel der „vollständigen Emanzipation“ – was nichts anderes als die Überwindung der kapitalistischen Reproduktionsbedingungen bedeutet - genutzt wird. Deshalb war und ist es jetzt und wird die Aufgabe der Revolutionär:innen in ver.di sein, sowohl an die konkreten Erfahrungen der Selbstermächtigung und erlebter Solidarität der Kolleg:innen im Arbeitskampf als auch an ihre Frustration über die systemstabilisierende Taktik der Führung anzuknüpfen. Anzuknüpfen, mit dem Ziel, dass diese Erfahrungen als reflektierter Teil der persönlichen Geschichte eines Vorgeschmacks auf die mögliche „vollständigen Emanzipation“ Triebfeder für die Entwicklung des individuellen Bewusstseins als Teil des Bewusstseins der Klasse wird.

Wir dürfen uns nach jahrzehntelanger Konterrevolution, der Zerschlagung gewerkschaftlicher aber auch revolutionärer Strukturen durch Faschismus, Demokratie und Stalinismus und der fast vollständigen Integration der Arbeiter:innenklasse in den Staat keine falschen Hoffnungen machen, dass der Prozess der Wiederaufnahme des Klassenkampfes in all seinen Facetten (vom reinen Abwehrkampf bis hin zum offenen revolutionären Kampf) etwas ist, dass einfach vom Zaun zu brechen ist. Es reichte eben nicht einfach aus, wenn wir bei der nächsten Tarifrunde „alles richtig“ machen würden. Sondern wir müssen einen sehr langen Atem haben und immer und immer wieder in den konkreten Kämpfen mit einer klaren antikapitalistischen Perspektive und revolutionären Haltung den Kampfesgeist unserer Klasse unterstützen und Kämpfe für die unnachgiebige Verteidigung und vor allem Verbesserung unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen forcieren. Nur so kann eine Entwicklung angestoßen werden, die unserer Klasse perspektivisch die Kraft gibt, von der (noch nicht einmal stattfindenden) Verteidigung zum offenen Generalangriff auf die herrschenden Ausbeutungsstrukturen überzugehen und sich nicht länger mit Brotkrümeln abspeisen und immer weiter zurückdrängen zu lassen. Darüber hinaus dürfen nicht die Fehler der sogenannten „Syndikalist:innen“ wiederholt werden, die eine breite kämpferische Gewerkschaft mit einer revolutionären Organisation verwechseln: Gewerkschaften sind dazu da, Kämpfe für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu führen und unsere Klasse in der Breite zu organisieren.; Um den Weg frei zu machen für eine klassenlose Gesellschaft und die Zerstörung des bürgerlichen Staates mit all seinen Institutionen, ist darüber hinaus eine andere Organisation notwendig: die revolutionäre kommunistische Partei, die in und mit ihrer systematischen politischen Arbeit sowie mit ihrem theoretischen und praktischen Rüstzeug und ihren reflektierten Erfahrungen aus vergangenen Kämpfen deutlich über den Spontaneismus und die reformistische Alltagspolitik gewerkschaftlicher Strukturen hinausgeht. Die Stärkung und die internationale Verankerung der Kommunistischen Partei haben wir uns zur Aufgabe gesetzt.

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