WAS UNSERE PARTEI KENNZEICHNET: Die politische Kontinuität von Marx zu Lenin bis zur Gründung der Kommunistischen Internationale und der Kommunistischen Partei Italiens (Livorno 1921); der Kampf der Kommunistischen Linken gegen die Degeneration der Kommunistischen Internationale, gegen die Theorie des “Sozialismus in einem Land” und die stalinistische Konterrevolution; die Ablehnung von Volksfronten und des bürgerlichen Widerstandes gegen den Faschismus; die schwierige Arbeit der Wiederherstellung der revolutionären Theorie und Organisation in Verbindung mit der Arbeiterklasse, gegen jede personenbezogene und parlamentarische Politik.


 

Überarbeiteter Vortrag unseres offenen Treffens im Juli 2023

Sie hat eine fast „magische Anziehungskraft“, die von Georg Lukács vor 100 Jahren im österreichischen Exil zusammengestellte und 1923 unter dem Buchtitel „Geschichte und Klassenbewußtsein“ im Berliner Malik-Verlag erschiene Aufsatzsammlung. Entstanden als Beitrag zur Parteidebatte in der noch jungen Kommunistischen Internationale, haben die damaligen Aufsätze von George Lukács – nicht zuletzt aufgrund ihrer philosophischen Fundierung und theoretischen Kompaktheit – bis heute nichts an Ihrer Strahlkraft v.a. im politisierten, aktivistischen „linken Milieu“ eingebüßt. Wir wollen im Folgenden auf die positiven Aspekte der Schrift eingehen, aber auch – reflektierend auf Lukács spätere Selbstkritik – ihre Mängel erwähnen.

Georg Lukács, ein Intellektueller aus großbürgerlichem Hause, der sich am Ende des Ersten Weltkrieges der proletarischen Bewegung angeschlossen hatte (Volkskommissar in der ungarischen Räterepublik war und politische Schulungen bei kämpfenden Einheiten der Roten Armee durchgeführt hatte) sah retrospektiv – in seinem kritischen Vorwort zur deutschen Neuausgabe – in dem Buch nur einen Ausdruck seines „Weges zum Marxismus“. Diese u.a. auf Drängen von Rudi Dutschke 1968 bei Luchterhand erschienene Neuveröffentlichung zeigte allerdings das große Interesse der „68er Bewegung“ an dieser Schrift, das aus einer ähnlichen Motivation gespeist war, wie Lukács' damalige Zielvorgabe bei der Zusammenstellung: Einen aktivistischen Marxismus zu formulieren gegen die sozialdemokratischen (und nachfolgend stalinistischen) Erstarrungen. Den v.a. Intellektuellen „68ern“ ging es zusätzlich noch um eine Erklärung der sog. „Verbürgerlichung“ der Arbeiter:innenklasse, die ihr Wirken in der BRD so fruchtlos geraten lies.

Für uns liegt eine Bedeutung von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ in ihrer Rekonstruktion des einheitlichen Marxismus gegen den mechanischen Materialismus der Revisionist:innen, die Anfang des 20. Jahrhunderts die Vorherrschaft in der Sozialdemokratie erlangt hatten, und deren Theorien später im Opportunismus der 3.Internationale wieder belebt werden sollten. Lukács hatte schon im Vorwort zur Erstausgabe festgestellt: „Denn es gilt – dies ist die Grundüberzeugung dieser Blätter -, das Wesen der Methode von Marx richtig zu verstehen und richtig anzuwenden, keineswegs aber sie in irgendeinem Sinne zu ‘verbessern’.“ (Ausgabe Sammlung Luchterhand 1970, S.51) Rückblickend konkretisierte er: „Ich erwähne nur das Einbeziehen der Jugendwerke von Marx in das Gesamtbild seiner Weltanschauung, während die damaligen Marxisten im Allgemeinen in diesen nur historische Dokumente seiner persönlichen Entwicklung sehen wollten. Dass Jahrzehnte später dieses Verhältnis umgekehrt wurde, dass man vielfach den jungen Marx als den einheitlichen Philosophen darstellte und seine reifen Werke weitgehend vernachlässigte, daran ist ‘Geschichte und Klassenbewußtsein’ unschuldig, denn in ihm wird das Marxsche Weltbild – richtig oder fehlerhaft – immer als ein wesentlich einheitliches behandelt.“ (Vorwort zur Neuausgabe. Ebenda, S.29) Lukács richtete seine damalige Schrift direkt gegen den mechanischen Fatalismus des sozialdemokratischen Reformismus, der aus dem zahlenmäßigen Wachsen der Arbeiter:innenklasse die vermeintliche Möglichkeit ihrer demokratische Machtübernahme als Übergang zum Sozialismus ableitete. Retrospektiv nannte er eine Quelle seiner Schrift „...die tiefe Abneigung gegen den mechanischen Fatalismus, der ihren Gebrauch im mechanischen Materialismus mit sich zu führen pflegte, gegen den mein damaliger messianischer Utopismus, die Vorherrschaft der Praxis in meinem Denken – wieder in nicht völlig unberechtigter Weise – leidenschaftlich protestierte.“ (ebenda, S.27)

Das Buch „Geschichte und Klassenbewußtsein“ ist eine Sammlung von Abhandlungen, die Lukács zwischen 1919 und 1922 geschrieben hatte und deren Anordnung im Buch der inhaltliche Struktur des Dargestellten entspricht. Wir wollen im Folgenden auf drei Beiträge genauer eingehen. Am Anfang steht der Aufsatz „Was ist orthodoxer Marxismus?“, den Lukács noch während seiner aktiven Teilnahme an der ungarischen Räterepublik im März 1919 geschrieben hatte. Ausgehend von der marxistischen Theorie der Entfremdung stellt er in seinem Hauptaufsatz die Probleme der „Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats“ dar (also die warenförmige Existenz auch der Arbeiter:innen im Kapitalismus, die eine unmittelbare Erkenntnis der geschichtlichen Klassenlage verhindert), um dann im abschließenden Aufsatz „Methodisches zur Organisationsfrage“ dieses Problem der Formierung der Arbeiter:innenklasse als geschichtliche Kraft wieder praktisch zu wenden.

Was ist orthodoxer Marxismus?

Lukács schrieb in seinem gleichnamigen Aufsatz: „Orthodoxie in Fragen des Marxismus bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die Methode“ und stellte fest, dass „alle Versuche, sie zu überwinden oder zu ‘verbessern’ nur zur Verflachung, zur Trivialität, zum Eklektizismus geführt haben und dazu führen mußten“. (ebenda, S.59) Er identifiziert die marxistische Orthodoxie mit der dialektischen Methode, die er sowohl in ihrer materialistisch determinierten als auch ihrer tätigen Seite begreift.

Während bemühte Sponti-Theoretiker kritische Fußnoten von Lukács zu einigen Engels-Schriften zur Naturdialektik popularisierten, hob dieser durchaus die materialistische Determiniert der Totalität des Geschichtsprozesses hervor: „Der Mensch der feudalen Gesellschaft konnte über sich als Gesellschaftswesen nicht bewusst werden, weil seine gesellschaftlichen Beziehungen selbst noch vielfach einen naturhaften Charakter besessen haben. (…) Die bürgerliche Gesellschaft vollzieht diesen Vergesellschaftungsprozess der Gesellschaft. (…) So wird die Erkenntnis der Gesellschaft als Wirklichkeit nur auf dem Boden des Kapitalismus der bürgerlichen Gesellschaft möglich.“ (ebenda, S.86 ff) Allerdings war es nicht nur die objektive Zunahme der aufeinander bezogenen arbeitsteiligen Produktion und Reproduktion immer größerer Teile der Gesellschaft, sondern die dadurch gegebene Erkenntnisfähigkeit setzte, wie Lukács feststellte, auch wiederum ein materialistisch determiniertes Erkenntnisinteresse voraus. Während die Bourgeoisie ihre im Feudalismus gewachsene ökonomische Macht zur politischen Herrschaft gebracht und als quasi gesellschaftliches Naturgesetz etabliert hat, kann das Proletariat „seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft, die sich in seiner Situation zusammenfassen, aufzuheben.“ (Karl Marx: Die heilige Familie. MEW Bd. 2, S.38. - zitiert von Lukács S.88)

Hier geht Lukács auf die historisch-materialistischen Grundlagen des „Klassenbewusstseins“ ein: „Die Klasse jedoch, die als geschichtlicher Träger dieser Umwälzung auftritt, die Bourgeoisie, vollzieht diese ihre Funktion noch unbewusst (…) Erst mit dem Auftreten des Proletariats vollendet sich die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und sie vollendet sich eben, indem im Klassenstandpunkt des Proletariats der Punkt gefunden ist, von wo aus das Ganze der Gesellschaft sichtbar wird.“, da „von seinem Standpunkt Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Totalität zusammenfallen, (...) es zugleich Subjekt und Objekt der eigenen Erkenntnis ist.“ (ebenda, S.87)

In der Klassenlage des Proletariats, das „nichts zu verlieren hat als seine Ketten“ – für die Freunde naiver Ironie und flacher Witze sei hier nur angemerkt: Goldkettchen sind keine Faktoren der Produktion und Reproduktion! – , ist die vorurteilsfreie Erkenntnis der Gesellschaft bzw. ihres historischen Prozesses angelegt. Es kann sich nur befreien, indem es die ganze Gesellschaft umwälzt, das Privateigentum an Produktionsmitteln abschafft und jegliche Klassenspaltung beseitigt.

Abgeleitet aus der später umfangreich dargelegten „Verdinglichung“ - auf die wir noch eingehen werden - hob Lukács schon in seinem Aufsatz über orthodoxen Marxismus den tätigen Charakter der proletarischen Bewusstseinsbildung hervor. Nachdem er festgestellt hatte: „...dieses Sichergeben der totalen Wirklichkeitserkenntnis von seinem Klassenstand aus, bedeutet aber keineswegs, dass diese Erkenntnis oder die methodische Einstellung auf sie nun dem Proletariat als Klasse (und erst recht nicht den einzelnen Proletariern) unmittelbar und natürlich gegeben wäre.“ (ebenda, S.89), bezieht er die Wirklichkeitserkenntnis auf den Entwicklungsprozess der proletarischen Bewegung selbst: „Es ist der Weg von der Utopie zur Wirklichkeitserkenntnis; der Weg von den transzendenten Zielsetzungen der ersten großen Denker der Arbeiterbewegung bis zur Klarheit der Kommune von 1871: dass die Arbeiterklasse ‘keine Ideale zu verwirklichen’, sondern ‘nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen’ hat; der Weg von der Klasse ‘gegenüber dem Kapital’ zu der Klasse ‘für sich selbst’.“ (ebenda, S.90)

Die „Arbeiter:innenklasse“ ist keine statische und statistische Größe, weder „bürgerlich“ noch „revolutionär“, sondern in ihrer Existenz ein Produkt ihrer eigenen Dynamik (Kämpfe und Erfahrungen – theoretisch fundiert im Marxismus und systematisiert in der Programmatik des Kommunismus). Deswegen gehen wir davon aus, dass die Existenz der Klasse eng mit der Existenz der Kommunistischen Partei verknüpft ist. Schon Marx und Engels schrieben im Kommunistischen Manifest von der „Organisation der Proletarier zur Klasse und damit zur politischen Partei“. Lukács Untersuchung der Entwicklungsbedingungen des Klassenbewusstseins zeigen den dialektischen Charakter dieser Entwicklung selbst, die die Klasse nur im Kampf entstehen lässt und ihre Partei zur Trägerin ihres Bewusstseins macht. Die Rolle des bewussten Faktors und theoretischen Kampfes hervorhebend, beendet er dementsprechend seinen Aufsatz mit der Feststellung:

Darum ist die Funktion des orthodoxen Marxismus, seine Überwindung von Revisionismus und Utopismus kein einmaliges Erledigen falscher Tendenzen, sondern ein sich immer erneuernder Kampf gegen die verführende Wirkung bürgerlicher Auffassungsformen auf das Denken des Proletariats. Diese Orthodoxie ist keine Hüterin von Traditionen, sondern die immer wache Verkünderin der Beziehung des gegenwärtigen Augenblicks und seiner Aufgaben zur Totalität des Geschichtsprozesses.“ (ebenda, S.93)

Hier ist Lukács bei Marx und Engels, die im Manifest die führende Rolle der Kommunistischen Partei damit erklärten, dass sie „theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus“ hat.

Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats

Lukács beschreibt in diesem zentralen Text des Buches ausgehend von Marx' Kritik der politischen Ökonomie das Warenproblem als das zentrale strukturelle Problem der kapitalistischen Gesellschaft, ursächlich für alle Gegenständlichkeitsformen und die ihnen entsprechende Formen der Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft. Er zitiert Marx: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.“ (Das Kapital Band 1. MEW Bd. 23, S.86. - siehe Lukács S.174f.) Für die Ebene des Bewusstseins konstatiert Lukács dementsprechend: „Der Mensch erscheint weder objektiv noch in seinem Verhalten zum Arbeitsprozess als dessen eigentlicher Träger.“ (ebenda, S.178)

Wir kennen diese der Warengesellschaft immanente Form der Entfremdung sehr gut. In ihr wird alles (inklusive der produktiven Tätigkeit der Menschen) auf den Wert reduziert und zu Markte getragen, die Arbeitskraft verkauft und die „Selbstoptimierung“ zum Lebensziel erhoben. Die produktive Kooperation der Produzenten wird dem Konkurrenzprinzip unterworfen und ihre Produkte werden für sie immer schwerer bezahlbare Waren im Supermarkt.

Lukács beschreibt diese Totalität der warenförmigen Existenz als Grundlage der Isoliertheit der Lohnarbeiter in der bürgerlichen Gesellschaft. Diese wird laut Lukács durch die rationell-kalkulatorische Zerlegung des Arbeitsprozesses noch verschärft: „...zerreißt die mechanisierende Zerlegung des Produktionsprozesses auch jene Bande, die die einzelnen Subjekte der Arbeit bei ‘organischer’ Produktion zu einer Gemeinschaft verbunden haben.“ (ebenda, S.180) Die „Alltagswirklichkeit“ macht den kontemplativen Zuschauer zu einem „isolierten, in ein fremdes System eingefügten Teilchen“ (ebenda).

Hier geht Lukács richtig auf einen Aspekt der kapitalistischen Produktion ein, den das Kapital auch politisch-strukturell zu vertiefen versucht. Die produktive Kooperation des Proletariats, die für die Mehrwertproduktion unerlässlich und damit für den Kapitalismus existenziell ist, soll durch organisatorische Zergliederungen und Auflösung von Arbeiter:innenkonzentrationen in ihrem antagonistischen Potential entschärft werden. Dieser Versuch des Kapitalismus das Anwachsen seines selbstgeschaffenen „Totengräbers“, wie Marx und Engels im Manifest schrieben, zu verhindern, stößt allerdings an die Grenzen der Existenzbedingungen des Kapitalismus selbst. Der Kapitalismus kann nicht existieren ohne aus lebendiger Arbeit Mehrwert zu saugen. Seine „ideologischen Brandmauern“, so tief sie auch in den Entfremdungsverhältnissen verwurzelt sind, stehen grundsätzlich auf dem sandigen Boden des Klassenantagonismus.

Hier setzt dann auch unsere Staats- und auch Demokratiekritik an: Die fehlende Gesellschaftlichkeit der warenförmigen Individuen kann in der bürgerlichen Gesellschaft nur über den Staat hergestellt werden. Die vermeintlich demokratische Souveränität der Individuen ist dabei nur die ideologische Festschreibung der Warenform. Demgegenüber muss der proletarische Klassenkampf die reale Gesellschaftlichkeit gegen den Staat und seine demokratischen Formen revolutionär durchsetzen.

Der Kapitalismus schafft durch sein gesellschaftliches System der Mehrwertproduktion (also die notwendige produktive Kooperation) die Grundlagen und durch seine zwangsläufige Verschärfung der Ausbeutung und seine krisenhafte Entwicklung die Notwendigkeit für den existenziellen Kampf der Lohnarbeiter:innen. Die strukturelle Totalität seines Systems hebt den Antagonismus nicht auf. Auf diesen im philosophischen Hauptteil seines Buches unterbeleuchteten Aspekt ging Lukács in seiner späteren Selbstkritik ein: „Es ist sicher ein großes Verdienst von ‘Geschichte und Klassenbewußtsein’, dass es der Kategorie der Totalität, die die ‘Wissenschaftlichkeit’ des sozialdemokratischen Opportunismus ganz in Vergessenheit drängte, wieder jene methodologische Zentralstelle zuwies, die sie in den Werken von Marx immer hatte. Dass bei Lenin ähnliche Tendenzen wirksam waren, wusste ich damals nicht. (…) Während aber Lenin auch in dieser Frage die Marxsche Methode wirklich erneuerte, entstand bei mir eine - Hegelsche – Überspannung, indem ich die methodologische Zentralstelle der Totalität in Gegensatz zur Priorität des Ökonomischen brachte.“ (ebenda, S.21) „In solchen philosophischen Schiefheiten rächte es sich, dass ‘Geschichte und Klassenbewußtsein’ in seiner Analyse der ökonomischen Phänomene nicht in der Arbeit, sondern bloß in komplizierten Strukturen der entwickelten Warenwirtschaft seinen Ausgangspunkt suchte.“ (ebenda S.20)

Lukács versank bei seiner Ablehnung des mechanischen Materialismus der Sozialdemokratie in den Tiefen der Warenformanalyse und Entfremdungstheorie und „vergaß“ teilweise die Grundlinien des historischen Materialismus. Er stellte in seinem selbstkritischen Vorwort richtig fest, dass in seiner Schrift „die kapitalistische Ausbeutung (…) diese ihre objektiv revolutionäre Seite (verliert)… dass also die höhere Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozess erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden“ (ebenda, S. 17).

Wenn Lukács im Verdinglichungs-Aufsatz die „Auflösung und Zersetzung aller urwüchsigen Produktionseinheiten“ kritisierte und feststellte, dass der Kapitalismus die „rationell verdinglichten Beziehungen an Stelle der urwüchsigen, die menschlichen Verhältnisse unverhüllter zeigenden“ setzt (ebenda, S. 181f.), übersieht er, dass ja gerade die Entwicklung des kapitalistischen Marktes die isolierte, religiös verbrämte Existenz der Produzenten im Feudalismus aufgesprengt und damit die Möglichkeiten der Vergesellschaftung erst geschaffen hat. Die Bourgeoisie hat die Produktionsverhältnisse geschaffen, die für die Entwicklung der Produktivkräfte notwendig waren. Der Sozialismus muss wiederum die kapitalistischen Produktionsverhältnisse abschaffen, die zur Fessel für eine vernünftige Nutzung und Entwicklung der Produktivkräfte (entsprechend der Anforderungen des Stoffwechsels von Mensch und Natur) geworden sind. Diese Grunderkenntnis des historischen Materialismus, dass die (entfremdete) kapitalistische Vergesellschaftung erst die Grundlagen der realen Vergesellschaftung entwickelt, dass der Kapitalismus selbst die Grundlagen der Warenproduktion unterminiert (ökonomische Krisen, Staatskapitalismus) und dass er mit der Arbeiter:innenklasse den Totengräber der kapitalistischen Gesellschaft schafft, ist eine Grunderkenntnis des Marxismus. Mit der produktiven Kooperation der Arbeiter:innenklasse im Kapitalismus (und tendenziell auch schon gegen die Ausbeutung), wir die Voraussetzung der revolutionären Kooperation geschaffen.

RICHTIG an Lukács Verdinglichungstheorie ist, dass im Kapitalismus auch die Lohnarbeiter:innen Warensubjekte sind und die Arbeiter:innenklasse nur im Kampf entstehen kann. ABER: Auf ihren Grundlagen (soziale Gleichheit, produktive Kooperation) nicht durch „messianische Aufklärung“.

Der sich auf Lenin berufende Lukács sah offensichtlich seine theoretischen Mängel, die gerade den Sponti-Theoretikern und kurzzeitig revoluzzernden „Geschichte Macher“ so eingängig waren.

Er schrieb in seiner Selbstkritik: „Ich bemerkte nur nicht, dass ohne eine Basis in der wirklichen Praxis, in der Arbeit als ihrer Urform und ihres Modells, die Überspannung des Praxisbegriffs in den einer idealistischen Kontemplation umschlagen muss. (...) Gemeint habe ich das, was Lenin in ‘Was tun?’ so bezeichnet, dass im Gegensatz zum spontan entstehenden trade-unionistischen Bewusstsein, das sozialistische Klassenbewußtsein an die Arbeiter ‘von außen’ (…) herangetragen wird. Was also bei mir der subjektiven Intention nach, bei Lenin als Ergebnis der echten marxistischen Analyse einer praktischen Bewegung innerhalb der Totalität der Gesellschaft war...“ (ebenda, S.18)

Der richtige Kern der Lukác'schen Selbstkritik führt ihn allerdings zu falschen politischen Schlussfolgerungen. So erklärte er in seinem späteren Vorwort: „Das ich in den russischen Parteidiskussionen an der Seite Stalins, auf der Bejahung des Sozialismus in einem Land stand, zeigte sehr deutlich den Beginn einer entscheidenden Wandlung.“ (ebenda, S.31) Lukács meinte, dass er mit der Hinwendung zur stalinistischen Realpolitik eine Überwindung seiner idealistischen Fehler eingeleitet hätte. So vertrat er in seiner folgenden ungarischen Parteiarbeit die „Kooperation der einigermaßen links gerichteten gesellschaftlichen Elemente gegen die heraufziehende und sich verstärkende Reaktion.“ Er unterstützte die Einheits- und Volksfrontpolitik, die ja in Wirklichkeit den proletarischen Kampf im bürgerlichen Bündnis auflöste und behauptete, dass „für Ungarn ein direkter Übergang zur Räterepublik nicht möglich“ war, womit er das stalinistische „Etappenmodell“ vertrat, das ihr erbärmliches Resultat ja gerade in den „Volksdemokratien“ fand. (ebenda, S.32f.)

Lukács löste im Nachhinein das richtig festgestellte Problem von warenförmiger Entfremdung und produktiver Kooperation realpolitisch. Er setzt statt auf eine historisch-materialistische Aufhebung (im Kampf der Klasse selbst, „naturwüchsig“ entstehend und von der Partei geführt) auf eine politisch-taktische (durch geschicktes Agieren der den schrittweisen Fortschritt organisierenden – stalinistischen – Partei) und bleibt damit gerade in dem von ihm in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ richtig kritisierten bürgerlichen (Entfremdungs-)Rahmen: Demokratie, Parlament, opportunistisches „Politik machen“.

Trotzdem betrachtet er in dem im September 1922 im Kontext mit der damaligen Diskussion in der Kommunistischen Internationalen geschriebenen letzten Aufsatz seines Buches die Organisationsfrage theoretisch in einer großen Tiefe und Klarheit.

Methodisches zur Organisationsfrage

In seiner Darstellung des dialektischen Zusammenhangs zwischen geschichtlicher Entwicklung und proletarischer Organisation greift Lukács auf Rosa Luxemburgs antirevisionistischen Beitrag in der Massenstreikdebatte innerhalb der Sozialdemokratie am Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Er teilt ihre Kritik der sozialdemokratischen politisch-gewerkschaftlichen Apparate: „Das Problem der Massenaktionen, des revolutionären Massenstreiks zeigt ihre Ohnmacht den spontanen Bewegungen der Massen gegenüber; erschüttert die opportunistische Illusion, die in dem Gedanken der ‘organisatorischen Vorbereitung’ solcher Aktionen steckt; erweist, dass solche Organisationen den realen Aktionen der Massen stets nur nachhinken, sie hemmen und hindern, statt sie fördern oder gar führen zu können.“ (ebenda, S.455f.)

So richtig das Ablehnen eines mechanischen Organisationsverständnisses ist, so falsch ist natürlich das absolut setzten der spontanen Klassenbewegung. Lukács schreibt zu dem Fehler Rosa Luxemburgs: „Dazu wäre es aber notwendig gewesen, dass Rosa Luxemburgs die Frage der politischen Führung wieder organisatorisch wendet: dass sie jene organisatorischen Momente aufdeckt, die die Partei des Proletariats zur politischen Führung befähigt.“ (ebenda, S. 456) „Sie hat bloß den organischen Charakter dieses Prozesses überschätzt und die Bedeutung des bewußten, bewußt-organisatorischen Elementes in ihm unterschätzt.“ (ebenda, S.482)

Lukács definierte wie Lenin „die kommunistische Partei als revolutionäre Bewusstseinsform des Proletariats.“ (ebenda, S.482), als „konkretes Vermittlungsprinzip zwischen Mensch und Geschichte“ (ebenda, S.488). Ihre Aufgabe ist es „den Entwicklungsprozess des Klassenbewußtseins zu befördern und zu beschleunigen.“ Im Gegensatz zur „Organisationsform der Sekten“ und zur „Organisationsform der Opportunisten“ ist für Lukács „die scharfe, organisatorische Trennung der

bewussten Vorhut von den breiten Massen nur ein Moment des einheitlichen, aber dialektischen Entwicklungsprozesses der ganzen Klasse, der Entwicklung ihres Bewusstseins.“ (ebenda, S.512) Er erklärt die „Notwendigkeit der organisatorischen Abtrennung der Partei von der Klasse“ mit dem „verschiedenen Grade der Klarheit und Tiefe dieses Klassenbewußtseins in den verschiedenen Individuen, Gruppen und Schichten des Proletariats“ (ebenda, S.490), der Tatsache, dass „das Proletariat vielfach noch immer sehr stark in den Gedanken- und Gefühlsformen des Kapitalismus befangen“ ist und dem Wirken des Opportunismus, den er als eigene organisatorische Form der Verbürgerlichung des Proletariats beschreibt. (ebenda, S.472)

Es ist eine grundlegende Position des (Links-)Kommunismus, dass die dialektische Einheit des zwangsläufigen proletarischen Kampfes und der notwendigen Kommunistischen Partei von den objektiven Möglichkeiten abhängt und ihren revolutionären Höhepunkt im sog. „Termin mit der Geschichte“ findet. Das heißt natürlich nicht, dass die Partei passiv wartet, bis die „objektiven Bedingungen“ vom Himmel fallen, es heißt aber, dass sie in ihrer Praxis immer die „Beziehung des gegenwärtigen Augenblicks und seiner Aufgaben zur Totalität des Geschichtsprozesses“ im Auge hat, wie Lukács treffend schrieb. D.h., wie Marx und Engels im Manifest schrieben, dass sie „in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung“ vertritt. Dies alles in vollem Bewusstsein, dass man historische Prozesse nicht substituieren kann, sondern – für die Praxis! – in ihren Möglichkeiten und Grenzen klar erkennen muss. Wie Lukács schrieb: „Hier wird die Funktion der richtigen Theorie für das Organisationsproblem der kommunistischen Partei sichtbar. Sie soll die höchste, objektive Möglichkeit des proletarischen Handelns repräsentieren. Dazu ist aber die richtige theoretische Einsicht die unerlässliche Vorbedingung.“ (ebenda, S.496)

Lukács richtet sich in seiner Schrift zur Organisationsfrage gegen jeden Opportunismus, wie er nach dem Rückfluss der revolutionären Welle Anfang der 20er Jahre in der Kommunistischen Internationale Mode werden sollte. Durch Bündnisse mit der historisch aber leider noch nicht politisch erledigten Sozialdemokratie und „taktische“ Anpassungen an die kleinbürgerliche Demokratie sollte der geschwächte revolutionäre Klassenkampf aufgepäppelt und vor allem die isoliert gebliebene Sowjetunion verteidigt werden. Wir kennen auch heute das opportunistische Gefasel der Obertaktiker: „Wir müssen die Leute dort abholen, wo sie stehen“, was bei allem Bewegungseifer nur Anpassung und das Ertränken des Ziels im Elend der gegenwärtigen Situation bedeutet – weil man eben die Entwicklung schematisch und nicht dialektisch betrachtet. Demgegenüber stellte Lukács fest: „Die Entwicklung des proletarischen Klassenbewußtseins (also: die Entwicklung der proletarischen Revolution) und die der kommunistischen Partei sind zwar - weltgeschichtlich betrachtet – ein und derselbe Prozess. Sie bedingen sich also in der Praxis des Alltags wechselseitig in der innigsten Weise, ihr konkretes Wachstum erscheint aber dennoch nicht als ein und derselbe Prozess, ja er kann nicht einmal eine durchgehende Parallelität aufzeigen.“ (ebenda, S.498f.) Er merkte an, dass die Partei sogar zuweilen gezwungen ist, „gegen die Massen Stellung zu nehmen; ihnen den richtigen Weg durch Negation ihres gegenwärtigen Wollens zu zeigen. Sie ist gezwungen, darauf zu rechnen, dass das Richtige an ihrer Stellungnahme den Massen erst post festum, nach vielen bitteren Erfahrungen begreiflich wird.“ (ebenda)

Mit der richtigen Feststellung, dass es die Realität der wirtschaftlichen und sozialen Lage ist, die die Massen in Bewegung setzt und dass es nicht in der Wirkungsmächtigkeit einer noch so geschickten und gut organisierten kommunistischen Partei liegen kann, die Situation aus einer der Stagnation in eine des Kampfes zu verschieben (die geschichtliche Situation wird nicht durch den Willen der Partei erschaffen!), lag Lukács damals auf einer Linie mit der kommunistischen Linken.

Schon zwei Jahre vor Lukác's „Geschichte und Klassenbewußtsein“ hatte Amadeo Bordiga im Prozess der Gründung der Kommunistischen Partei Italiens die beiden Artikel „Partei und Klasse“ (April 1921) und „Partei und Klassenaktion“ (Mai 1921) geschrieben. Dort war zu lesen:

Der Begriff ‘Klasse’ darf also bei uns kein statistisches Bild erwecken, sondern ein dynamisches. Wenn wir ein soziales Streben, eine Bewegung mit gewissen Zielen entdecken, dann dürfen wir die Existenz einer Klasse im wahren Sinne des Wortes erkennen. Aber dann existiert auch schon, wenn auch noch nicht formal, so doch in der Substanz die Klassenpartei.“ (Partei und Klasse, Texte der IKP 1, S.14)

Die kommunistische Partei ist mit einem durch die internationalen Erfahrungen der Bewegung bekräftigten theoretischen Bewusstsein ausgestattet, das ihr die Vorbereitung für die Erfordernisse des revolutionären Kampfes gibt; auch wenn sich in gewissen Phasen ihres Lebens die Massen teilweise von ihr entfernen, hat die Partei die Garantie, sie um sich zu haben, wenn sich jene revolutionären Fragen stellen werden, die keine andere Lösung zulassen als die in ihrem Programm vorgezeichnete.“ (ebenda, S.28)

Abschließend lässt sich feststellen, dass Lukács mit seinen Beiträgen in „Geschichte und Klassenbewußtein“ trotz aller Mängel grundlegend auf bolschewistischem Kurs war (was hier positiv gemeint ist und nichts mit seiner stalinistischen Verballhornung zu tun haben soll). Mit den darin geäußerten politischen Schlussfolgerungen seiner philosophisch-theoretischen Betrachtungen stand er damals auf der Seite der Linken in der Kommunistischen Internationale (was sich allerdings vor dem Hintergrund der ungarischen Parteientwicklung schnell ändern sollte). Dass die spätere theoretische Wirkungsmächtigkeit seiner Schrift vor allem in der Adaption ihrer Mängel lag (von der Konstruktion eines „westlichen Marxismus“ bis zur Negation des revolutionären Potentials der Arbeiter:innenklasse) ist weniger der weiteren politischen Entwicklung von Lukács als der folgenden konterrevolutionären Epoche nach dem Ausbleiben der Weltrevolution und dem Sieg des Stalinismus geschuldet. Lukács Buch lieferte damals einen wichtigen Beitrag in der Parteidebatte der Kommunistischen Internationale und ist für ein tieferes Verständnis der kommunistischen Programmatik auch heute durchaus dienlich.

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