WAS UNSERE PARTEI KENNZEICHNET: Die politische Kontinuität von Marx zu Lenin bis zur Gründung der Kommunistischen Internationale und der Kommunistischen Partei Italiens (Livorno 1921); der Kampf der Kommunistischen Linken gegen die Degeneration der Kommunistischen Internationale, gegen die Theorie des “Sozialismus in einem Land” und die stalinistische Konterrevolution; die Ablehnung von Volksfronten und des bürgerlichen Widerstandes gegen den Faschismus; die schwierige Arbeit der Wiederherstellung der revolutionären Theorie und Organisation in Verbindung mit der Arbeiterklasse, gegen jede personenbezogene und parlamentarische Politik.


 

Als die „Reformisten“ nach dem gescheiterten närrischen „konservativen“ Putsch in Moskau am 20. August die Kontrolle über das riesige Sowjetimperium zurückgewannen, riefen die Politologen der gesamten bürgerlichen Welt im Chor: Die UdSSR hat ihre Zweite Revolution gefeiert oder feiert sie gerade! Mit einer großmütigen Geste räumten sie ein, dass die Oktoberrevolution die erste Revolution war, die authentisch proletarisch und sozialistisch war, aber sie behaupteten – und hier liegt die Lüge – dass sie nahtlos, genau wie Stalin es forderte, im „Aufbau des Sozialismus“ mündete. Die zweite – friedlich-demokratische – Revolution folgt für sie auf das Scheitern der ersten, die von 1917 bis 1991 als ein einziger Block betrachtet wird (die Perestroika von 1985-90 wäre nichts anderes gewesen als ein verwirrtes Intervall, eine neutrale Zone, zwischen einem sterbenden Sozialismus und einer neu heranwachsenden Marktwirtschaft): Dank ihr – das ist die äußerst bequeme Schlussfolgerung – ist der „Kommunismus“ in der UdSSR und in der Welt, heute und für immer gestorben, ja er hat sich selbst liquidiert. An den Antipoden dieser mystifizierenden Version von über sechzig turbulenten Jahren steht die Version von uns, der Kommunistischen Linken, heute die einzigen, die sich mit Stolz – und zu Recht – zu Kommunist_innen erklären. Von der glorreichen proletarischen und kommunistischen Revolution vom Oktober 1917 bis zum Beginn des Aufbaus eines falschen Sozialismus im Jahre 1926-1927 gab es – behaupten wir – einen gewaltsamen und blutigen Bruch: Damals behauptete sich eine bürgerliche Konterrevolution, deren Inhalt der eilige Übergang von einem Land mit rückständiger Wirtschaft, die in einigen Bereichen (wie Lenin in der Broschüre „Über die Naturalsteuer“ beobachtete) sogar patriarchalisch war, zu einer großen kapitalistischen Nation. Nachdem diese Konterrevolution ihre Aufgabe mit notwendigerweise etatistischen und totalitären Methoden erschöpft hat, versucht sie nun – in einem, wie wir es nennen könnten, „zweiten Akt“ (einem Akt, den übrigens, wie den vorhergehenden, alle kapitalistischen Länder durchlaufen haben) – die schwere totalitäre Rüstung des vergangenen halben Jahrhunderts abzuschütteln, um das „berauschende“ Abenteuer sowohl der unternehmerischen Freiheit in der Wirtschaft als auch der Demokratie in der Politik zu erleben. Zwischen diesen beiden historischen Phasen des jungen sowjetischen Kapitalismus – von denen die zweite, wie immer in der Geschichte des Kapitalismus, keine andere Freude hat, als die erste als Summe aller Schrecken zu beschämen – gibt es trotz des Anscheins von lauten Brüchen eine enge und strenge Kontinuität. Revolutionen markieren den gewaltsamen Übergang von einer Klasse zur anderen; hier ist es eine einzige Klasse, die aus der Vorhölle einer embryonalen Existenz herauskommt, um Zugang zur Pracht einer übermächtigen Jugend zu erhalten.

Also nicht zwei Revolutionen, sondern eine sozialistische Revolution mit einem bedauerlicherweise kurzen Zyklus und eine kapitalistische Konterrevolution mit einem bedauerlicherweise langen Zyklus, die in ihrer Transformation ihr Endziel noch nicht erreicht hat. Bei den Protagonisten der ersten Revolution handelte es sich um ein hegemoniales städtisches Proletariat, das die Masse der Bauern hinter sich herschleppte, die ohne autonome Initiative waren, und eine wirklich kommunistische Partei, die die Führung übernahm; die Protagonisten der zweiten Revolution sind seit über fünfzig Jahren eine nicht mehr kommunistische Partei, die sich in den Dienst eines hektischen Kapitalisierungsprozesses der UdSSR stellte, und – lange Zeit jeder statistischen Erhebung entgangen, jetzt aber fest ins Licht der Öffentlichkeit gerückt – eine auf der Grundlage eines solchen Prozesses aufgewachsene Bourgeoisie.

Man kann aber einwenden: Was ist dann mit dem „realen Sozialismus“? Seit einem halben Jahrhundert antwortet die kommunistische Linke: Es gibt keinen Sozialismus, auch nicht mal im embryonalen Zustand, in dem Waren produziert werden, in dem die Produkte menschlicher Arbeit als Waren durch die „allgemeine Äquivalenz“ des Geldes und nach dem Wertgesetz ausgetauscht werden, in dem selbst die Arbeitskraft eine Ware ist, die gegen Lohn verkauft und gekauft wird, in dem die Produktion für Unternehmen erfolgt, die dazu berufen sind, den Mehrwert aus den bloßen Armen der Arbeit zu quetschen und als Mehrwert zu akkumulieren usw. Ob das alles unter der Ägide des Staates oder eines Konsortiums von Eisenhüttenbesitzern stattfindet, macht keinen Unterschied: Das ist Kapitalismus. Andererseits lehrt „Das Kapital“ etwa nicht, dass der Protagonist des Aufbruchs der ursprünglichen Akkumulation mit seinen „alles andere als idyllischen Methoden“ immer und überall der Staat ist? Der „Realsozialismus“ war – wir sagen es seit Jahrzehnten – eine schamlose Lüge.

Die Kraft und Vitalität des Marxismus, des Kommunismus, Lenins, liegt darin, dass man im voraus gewusst und gewarnt hat, dass das Schicksal der russischen politischen Revolution untrennbar mit dem Triumph der kommunistischen Revolution zumindest in den kapitalistisch fortgeschrittenen Ländern des Westens verbunden war; dass zur Erreichung dieses Zieles die besten Kräfte der Partei und der Klasse in Sowjetrussland und in der Welt eingesetzt und bis zum Äußersten in Anspruch genommen werden sollten, ohne jegliche Vorbehalte und ohne der Versuchung nachzugeben, sich in der eigenen nationalen Hülle zu verschließen oder die illusorische Abkürzung zu demokratischen Lösungen zu nehmen; und dass ohne diese Grundbedingungen der historische Zyklus, der im Oktober 1917 siegreich begann, sich in sein Gegenteil verkehren würde, nämlich die Einführung eines vollständigen Kapitalismus in Russland, der vielleicht – wie es tatsächlich passierte – als „Aufbau des Sozialismus in nur einem Land“, das zudem als rückständiges Land gilt, verkauft wurde. So sollte es notwendigerweise geschehen, und so ist es nach der Liquidierung aller revolutionären Perspektiven weltweit, der Tötung der revolutionären kommunistischen Partei in Russland und ihrer Umwandlung in eine fade demokratische Partei außerhalb ihrer Grenzen geschehen. Also ist der Marxismus tot? Nein: Vom Wüten der Konterrevolution in totalitärer oder demokratischer Gestalt zu einer Waffe reduziert, die nur scheinbar kritikunfähig ist, kann er unter dem Geschrei und Spott der international dominanten Klasse und ihrer opportunistischen Regimenter nicht anders, als wieder zur Kampf- und Siegeswaffe des Weltproletariats zu werden. Der Verlauf von über fünfzig Jahren Geschichte bedeutet nicht seine Leugnung und noch weniger sein Todesurteil: Er ist seine Bestätigung. Gehen wir ihn in einer kurzen Zusammenfassung noch einmal durch.

***

Indem der Stalinismus die leninsche Perspektive einer von der Partei gewaltsam geführten Industrialisierung, die auf neue revolutionäre Explosionen wartete, die im Westen mit quälender Langsamkeit heranreiften, auf den Kopf stellte, ging er dazu über, die bolschewistische Partei, ihr theoretisches Erbe, ihre Organisation, ihre Kämpfer in den Dienst einer beschleunigten Kapitalisierung des Landes zu stellen, die als Aufbau des Sozialismus ausgegeben wurde. Der Weg, den es zu gehen galt und dessen Tragödie wir miterlebt haben, war schon unerbittlich vorgezeichnet. Die Partei konnte, wie sie es in ihren fortgeschrittenen Stadien zwischen 1926 und 1933 immer wieder tat, Widerstand leisten, aufsteigen und rebellieren: Es war notwendig, deren Avantgarde zu beschmutzen, zu zerstreuen, zu erschöpfen und schließlich zu massakrieren, die programmatischen Grundlagen der Partei Lenins radikal zu verändern, sie auf eine formlose Masse von Befehlsausführern zu reduzieren, unabhängig davon, ob diese Befehle vom Zentrum oder eher vom unfehlbaren Anführer kamen.

Für die ungestörte Ausführung der Pläne zum sogenannten Aufbau des Sozialismus war es notwendig, die internationale kommunistische Bewegung zu opfern, indem dessen Parteien von Bastionen der revolutionären Zerstörung der konstituierten Ordnung in Bastionen ihrer Erhaltung durch die Volks-, National-, Kriegs-, Friedens-, parlamentarische Oppositions- und Regierungsfronten, dann durch die tausend volksdemokratischen und schließlich ohne jeden Schleier demokratischen Varianten der zweiten Hälfte des Jahrhunderts degradiert wurden. Es war notwendig, sie als subversive Kraft zu vernichten und ihre Tötung formell zu bestätigen, indem man eine veraltete und schwerfällige Dritte Internationale auflöste. Es war notwendig, die in einem geschlossenen Topf gebaute miese Theorie des Sozialismus und später die ebenso obszöne Theorie der Vereinbarkeit des Sozialismus mit der Produktion und dem Austausch von Gütern, der Lohnarbeit, der Währung, dem Fortbestehen des Wertgesetzes usw. zu kodifizieren, indem sie als geniale Neuerungen des Marxismus eines zum „Vater der Völker“ und zum „Himalaya des Denkens“ erhobenen Totengräbers dargestellt wurden.

Der Prozess der ursprünglichen und allmählich erweiterten Akkumulation konnte in der UdSSR nicht anders als unter den Bedingungen jahrhundertlanger Verzögerung im Vergleich zu den großen und ältesten Kapitalismen stattfinden. Man musste die Lücke füllen, indem man in Riesenschritten vorging und sich nicht vor einem Hindernis zurückzog. Es war notwendig, die ländlichen Gebiete zu plündern, – was zunächst als Entkulakisierung und dann als Kollektivierung der Landwirtschaft ausgegeben wurde – um die „befreiten“ Menschen und Ressourcen in den Dienst der neuen städtischen Industriezentren zu stellen. Man musste mit der Formulierung umfangreicher und ambitionierter Pläne fortfahren, die die Produktion von Produktionsmitteln zum Nachteil der Produktion von Konsumgütern forderten. Zu deren Verwirklichung in den gewünschten Zeiten und Mengen die neuen proletarischen Generationen aufgerufen wurden, im Namen eines schnell aufzubauenden falschen Sozialismus mörderische Arbeitszeiten und -rhythmen für Hungerlöhne möglichst mit Freude zu ertragen.

Die Solidarität unter den Arbeiter_innen musste durch Konkurrenz untereinander ersetzt werden: Das war der sogenannte sozialistische Wettbewerb d.h. der Wettlauf um den ersten Platz für eine armselige Leistungsprämie oder eine der vielen Medaillen der Helden der Arbeit, des Sozialismus, der Heimat, die in Fülle verteilt wurden – „moralische“ Anreize kosten nichts, und Gold und Silber dort drüben sind verschwendet! Es musste schnell gemacht werden, immer schneller, unabhängig vom Preis, der den Arbeiter_innen in Bezug auf Arbeitsbedingungen, Verpflegung, Unterkunft, Erholung und – theoretisch – Freizeit zu zahlen war: kurz gesagt, in Bezug auf die allgemeinen Lebensbedingungen.

In Firmengefängnissen wie auch in der Gesellschaft herrschte Staatsterrorismus; der „sozialistische Wettbewerb“ erzeugte, indem sie ihm neue Würde gab, die hassenswerte Figur des Sklavenhändlers und des Spitzels; der tägliche Tisch war kahl; die Wohnung war kaum mehr als ein Loch. Aber die Tagesberichte mit den Zahlen der Erfolge bei der Erreichung und sogar Überschreitung der in den Fünfjahresplänen festgelegten Ziele – während in den Ländern des alten Kapitalismus die Wachstumsraten der Produktion wie üblich eher zurückgingen – gaben dem Anspruch, im Hindernisrennen wirklich kurz davor zu stehen, die kapitalistische Produktionsweise und ihre verhasste Gesellschaft zu schlagen, einen Anschein von Wahrheit. Im Kontext der fortschreitenden Industrialisierung gab es Arbeit für alle, während in den westlichen Ländern die Arbeitslosigkeit wütete – ein Argument, das den einheimischen Schergen und den ausländischen Lobrednern des Regimes Anlass gab, zu verkünden, dass der Sozialismus im Aufbau war.

Die Verbrechen, die Farce-Prozesse, die Gulags, der Personenkult, die Verwandlung des verstorbenen Lenin (wie er befürchtet hatte) in eine „harmlose Ikone“, die Niederschlagung der Berliner Revolten von 1953, der Einmarsch in Ungarn und dann in die Tschechoslowakei, der Wettlauf um immer raffiniertere Waffen, die Schrecken des Wettlaufs um den Westen nachzuahmen usw. waren nur die Nebeneffekte des Kampfes um den Aufbau und die Konsolidierung eines großen nationalen Kapitalismus. „Tantae molis erat <solcher Mühe bedurfte es>“ – um Marx zu zitieren – „...den Scheidungsprozess zwischen Arbeitern und Arbeitsbedingungen zu vollziehen, auf dem einen Pol die gesellschaftlichen Produktions- und Lebensmittel in Kapital zu verwandeln, auf dem Gegenpol die Volksmasse in Lohnarbeiter..., dies Kunstprodukt der modernen Geschichte“. (MEW 23, Seite 787-788)

***

Obwohl die staatskapitalistischen Unternehmen (in denen nach der Zeit des Planungsrausches regelmäßig die Wachstumsraten der Produktion zu sinken begannen, auch wegen des Zunehmens von Fehlzeiten der Mitarbeiter_innen, Müdigkeit, Enttäuschung und Ressentiments in den Reihen der schrecklich ausgebeuteten Arbeitskräfte) dominierten, erschöpften sie das Bild des Produktionsapparates und seiner Funktionsweise in den Städten und auf dem Land nicht. Das Gesellschaftspanorama enthielt also nicht nur zwei Figuren – die mächtige Masse des Kapitals, die in der Industrie und in einem Teil der staatlichen Landwirtschaft konzentriert war, und die enorme und wachsende Masse der reinen Proletarier.

Schon die ersten zaghaften Reformen, die von den Nachfolgern Stalins eingeführt wurden und die dazu neigten, den Betriebsvorständen immer größere Spielräume in der Steuerung und Verwendung der Gewinne (wehe, wenn man von ... Profiten spricht!) einzuräumen, hatten die Entstehung und Entwicklung, quasi im Zusammenhang mit den Staatsunternehmen selbst, der Schattenwirtschaft aus so genannter individueller (kurz: privater) Arbeit begünstigt, die sich allmählich jeder zentralen Kontrolle entzog und sich in einem legalen oder halblegalen Marktsystem verbreiten konnte. Viel wichtiger ist, dass bereits in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine wie Pilze aus dem Boden schießende Gruppe von Unternehmen für die Planung und Ausführung (so genannter) öffentlicher Aufträge entstanden ist. Über deren Gewicht in der gesamten sowjetischen Wirtschaft haben wir in unseren Grundlagentexten ausführlich berichtet. Aus deren Schoß sind, wie die Geschichte des Kapitalismus lehrt, stets Flüsse von legalen und „illegalen“ Profiten entstanden.

Andererseits ist bekannt, dass vor allem in den UdSSR-Großstädten die Reparaturarbeiten im weitesten Sinne des Wortes nie aufgehört hatten, von Einzel- oder Familienunternehmen durchgeführt zu werden, denen dann durch ein Gesetz vom November 1986 ein rechtlicher Status verliehen wurde. Gleichzeitig wurden die prekären Tätigkeiten geregelt, die oft während der „leeren“ Tageszeiten ausgeübt wurden. Somit trug man „zur Aufdeckung der Schwarzarbeit bei – so kommentierten wir damals – und verwandelte dabei den „halbillegalen Wirtschaftsakteur“ in ein legitimes und hoch geschätztes „Mitglied der produktiven Gemeinschaft“. Aber es gab vor allem den Riesenbereich der landwirtschaftlichen Produktion. Hier blühten – und blühen noch jetzt mehr als je zuvor – neben den großen Staatsbetrieben (den Sowchosen) die sogenannten kollektiven Betriebe (die Kolchosen); und das sind nichts anderes als Genossenschaftsbetriebe mit eigenen wesentlichen Produktionsmitteln (Chruschtschow verkaufte ihnen nichts weniger als die staatlichen Traktorenstationen), die einen mehr oder weniger großen Jahresanteil des Produktes an den Staat verkaufen mussten, doch sie waren berechtigt, den Rest auf dem freien Markt zu verkaufen; dadurch deckten sie einen sehr hohen Prozentsatz des Nahrungsmittelbedarfs der Städte und teilten die Unternehmensgewinne aus ihrer kombinierten Tätigkeit unter den Mitglieder_innn auf. Das Land, auf dem sie arbeiteten, war bereits gemäß der Verfassung von 1936 in dauerhaftem Nießbrauch; die Häuser und die Gemüsegärten, die ihnen angegliedert waren, deren Produkte zum Teil in den Städten landeten, um dort zu Festpreisen verkauft zu werden, sind individuelles oder familiäres privates und übertragbares Eigentum. Die enorme Geldmasse, von der man liest, dass sie zwar in den Sparkassen, vor allem in den ländlichen brachliegt, aber sich schnell in produktives Kapital verwandeln kann, hat hier ihre unerschöpfliche Quelle. Und wenn wir diesem Sektor eines so wichtigen Teils der russischen Wirtschaft den Charakter eines weiteren Gewächshauses der gegenwärtigen und zukünftigen unternehmerischen Bourgeoisie zuschreiben, dann umso mehr, als die bäuerliche Mikroproduktion, ob individuell oder in Genossenschaften organisiert, vor dem Hintergrund der riesigen landwirtschaftlichen Fläche der UdSSR nicht nur als ein Ort der potentiellen Akkumulation des Produktivkapitals erscheint. Sie ist auch ein Nährboden für individualistische, lokalistische, autonome Reflexe, mentale und politische Abschottungen, religiösen Obskurantismus, regionale Unruhen, wiederkehrende Ausbrüche von Fremdenfeindlichkeit, die nichts weniger als den Wettlauf um Privatisierung und Unternehmensfreiheit in allen Bereichen ausmachen, eines der typischen und abstoßendsten Zeichen dieser letzten Phase der bürgerlichen Konterrevolution in der UdSSR und der parallelen, wenn auch nicht immer identischen Verwesung der Bundesrepublik Jugoslawien, ganz zu schweigen von der Krise in Osteuropa im Allgemeinen (aber beginnt der Westen nicht, ihr viel Zuneigung entgegenzubringen?)

***

Das Kapital ist eine soziale Macht, und wir brauchten keine statistisch identifizierbare Klasse von Bourgeois (weniger denn je die... Bürokratie) und in ihr keinen in den russischen Melderegistern der „Wirtschaftsakteure“ eingetragenen Kern, um die unter der stalinistischen Peitsche laufende wirtschaftliche und soziale Struktur der UdSSR als kapitalistisch zu definieren. Heute jedoch stehen diese Klasse und dieser aus den „Poren“ – wie Marx gesagt hätte – der kapitalistischen Produktionsweise und deren bürgerlichen Gesellschaft geborene und aufsteigende Kern in vollem Licht vor uns. Um ihre Gesichter zu kennen und um sicherzustellen, dass sie nicht nur als wirtschaftliche Kategorien, sondern auch als blutige soziale Figuren existieren, brauchen wir nicht, selbst wenn wir die Erlaubnis dazu hätten, auf eine der „alten Datschen des Apparats“ zu blicken, in denen sich die Mitglieder_innen voller neuer Ideen zu abendlichen Picknicks versammeln oder auf die kleine und schmucklose Halle des ehemaligen Hotels Slovenski in Moskau, wo sich US-Präsident Bush am 31. Juli herabließ, eine Gruppe „sowjetischer Pioniere“ über die Wunder des Managements zu belehren. Uns genügen die Handelsbanken und Genossenschaften, die „wie Pilze aus sowjetischem Boden schießen“; die Warenbörsen, die sich dort „vervielfachen“; die gemischten Unternehmen, die „schon mehr als 3000 ausmachten“; die Aktiengesellschaften, die, wenn auch langsam, abheben; die Konferenzen und die Gespräche am runden Tisch, die von den neuen Ökonomen der amerikanischen akademischen Ausbildung auf der halben Welt abgehalten wurden, um ihren westlichen Partnern das produktive Potenzial ihres Landes vorzustellen, das sich glücklicherweise von der Last der staatlichen Kontrolle befreit hatte; ein Dokument wie der Shatalin-Plan, der auch von Adam Smith oder David Ricardo geschrieben sein könnte; das Gesetz vom vergangenen 1. Juli über die Aufgabe der Verwaltung und den Verkauf des industriellen Erbes des Staates Stück für Stück bei Versteigerungen oder über Aktiengesellschaften; der Wettlauf um die Umstrukturierung; die Verpflichtung der Regierung, die Rückgabe des Landes an die Bauern rasch (ohne Bedingungen und Auflagen) zu vollenden – was heutzutage, d.h. in dem Maße, wie es durch den Prozess der Kapitalkonzentration und der „Produktionstechnik“ erreicht wird, die direkte oder indirekte, sofortige oder zukünftige Übertragung an große Privatunternehmen bedeutet – und so weiter. Kurz gesagt, was uns gegenüber steht, ist eine Gesellschaft von Karrieristen, als Individuen und als Gemeinschaft, so wie sie in bürgerlichen Gesellschaften typisch ist.

Ihre Existenz ist durch die Verbreitung demokratischer Institutionen, durch den sklerotischen und unnötig teuren Apparat der KPdSU, durch die unbändige Ausbreitung persönlicher, korporativer, regionaler und republikanischer Autonomien gesichert. Und dann der schwankende Kurs, der für die Geschichte der angreifenden Bourgeoisie auf der ganzen Welt typisch ist – zwischen zentrifugalen Schüben, die den Glanz von Freiheit und Sicherheit in geometrischer Progression nachzeichnen, mit denen jede bürgerliche Revolution die Stirn des Individuums umgeben hat und umgibt, und die früher oder später wütende Kämpfe entfesseln werden, um sich in der berühmten Turnhalle des Wettbewerbs gegenseitig in Stücke zu reißen, und inmitten von zentripetalen Schüben, die sich auf die zentrale Intervention des Staates – einheitlich oder föderal – berufen, um die viel gepriesenen und schließlich gewährten Freiheiten zu regulieren und den viel gepriesenen und schließlich offenen freien Markt mit regulatorischen Barrieren zu umgeben.

Teil dieser Geschichte sind die „charismatischen“ Persönlichkeiten, die sich auf der Bühne des nationalen politischen Theaters abwechseln, nicht weniger als die grauen Gestalten ihrer hohen Verwaltungsfunktionäre; die Verteidiger des politischen Zentralismus nicht weniger als die der Dezentralisierung; die Popen, zu deren Füßen sich die Sünder niederwerfen, deren Sünde unweigerlich mit der Ausübung der bürgerlichen Freiheiten verbunden ist, mit dem doppelten Ziel, ihr Gewissen zu entlasten und sich wieder zur Sünde berechtigt zu fühlen, und die Laienpriester, Intellektuellen, Akademiker, die den Rittern des freien Unternehmertums das Paradies versprechen;

die Kandidaten für die unzähligen Vertretungsorgane, mit denen der politische und soziale Atlas der UdSSR und ihrer Republiken sich rasch schmückt; die Dealer von ideologischem Opium und sehr materiellen Drogen; die Taufpaten jeder Art von Handel; der große Bankier und der kleine Wucherer; die Sänger einer notwendigen Freiheit und die eines nicht weniger notwendigen polizeilichen Zwangs; die kleinen Unternehmer, die heute die Szene beherrschen, und die großen, die sich darauf vorbereiten, sie morgen zu verschlingen und dann ihren Platz in den malerischen Sphären der Erzeugungskette und der Schattenwirtschaft wieder zu erobern und die, wenn sie den optimalen Grad des Kochens erreicht haben, wieder von den wagemutigen in- und ausländischen Investoren verschlungen werden.

Ist der Prozess der rasanten Vermehrung von Freiheiten, Autonomien, persönlichen, korporativen und regionalen Rechten in der UdSSR unumkehrbar? Die Geschichte des Kapitalismus besteht aus ständigen Widersprüchen, abwechselnden Beteuerungen und Verneinungen, zügellosen Deregulierungen und strengen Neuregelungen. Heute geht der Schub in Richtung der ersteren; und es ist ein überwältigender Schub. Morgen wird es, mit oder ohne Wachablösung, einen Schub in Richtung der zweiten geben, und wir werden sehen, wie ungestüm er sein wird. Dem tendenziellen Fall der Profitrate soll heute auch in der UdSSR mit dem Hagel der Umstrukturierungsliberalisierungen Einhalt geboten werden: ebenso wie die in ihrem gequälten Verlauf der Umsetzung allmählich verabschiedeten Abhilfemaßnahmen. Die Bourgeoisie ist ebenso sehr ein auf die Spitze getriebener Liberalismus wie Bonapartismus; sie benötigt den Föderalismus ebenso sehr wie den Zentralismus und ihre periodische Vermischung oder umgekehrt den Wechsel. Der große bürgerliche Kurs der UdSSR ist unumkehrbar, das ist sicher, es sei denn er kommt durch die proletarische Revolution zum Erliegen.

***

Wie ist die Position der Arbeiter_innenklasse? Sie kommt aus dem stalinistischen Gefängnis, dessen Gräuel am Ende sogar den Namen des Kommunismus zu ihrem Hassobjekt gemacht haben. Nicht durch ihre eigene Wahl in den Kreis der wirtschaftlichen und politischen Freiheit eingetreten, erhielt sie als erste Kostprobe davon den Verlust jener, wenn auch begrenzten Garantien, die den Namen einer anstrengenden, aber sicheren Arbeit und eines elenden, aber bestimmten Gehalts trugen. Sie hatte einen Vorgeschmack auf die Umstrukturierung im liberalistischen Sinne: bereits beträchtliche Kürzungen, die aber dazu bestimmt waren, bei der Belegschaft zuzunehmen (wie man eben schön sagt, wenn man nicht von Entlassungen sprechen möchte); Einfrieren der Löhne nach kurzen Raubzügen auf den Weiden der demagogischen Erhöhungen; Anstieg der Lebenshaltungskosten und Schwierigkeiten bei der Versorgung zu niedrigen Preisen; Streikverbote – all dies in einem Umfeld des Zerfalls jeder Verteidigungsorganisation und der schwindenden politischen Sicherheit.

Die Orgie der Wirtschaftsliberalisierungen verspricht nicht, diese Lage zu verbessern, sondern zu verschlimmern. Die Arbeiter_innenklasse betrachtet die politische und wirtschaftliche Demokratie mit mehr als gerechtfertigtem Misstrauen: Die direkte Erfahrung mit ihr kann sie sogar dazu bringen, zumindest einen Aspekt der stalinistischen Vergangenheit vorübergehend zu bedauern; Wut und Enttäuschung säen den Weg mit lokalistischen und regionalistischen Macken. Aber auf lange Sicht wird das Gewicht der wirtschaftlichen Entscheidungen in ihren Reihen die Notwendigkeit von Verteidigungsorganisationen, autonomen Kampfformen und Klassenzielen wieder aufleben lassen. „Es gibt kein großes historisches Übel“ – schrieb Engels am 17. Oktober 1893 an den russischen Danielson – „ohne einen ausgleichenden historischen Fortschritt“ (MEW 39, Seite 150). Die stalinistische Konterrevolution war für die russische und internationale Arbeiter_innenbewegung eine beispiellose Niederlage in der Geschichte von fast zwei Jahrhunderten sozialer Kämpfe. Objektiv gesehen hat die „Betriebsstätte der kapitalistischen Produktionsweise in einer sehr modernen Form und Technik in Ländern mit rückständiger, ländlicher, feudaler und ostasiatischer Wirtschaft“ die Arbeiter_innenklasse jedoch in den Strudel sozialer Konflikte geworfen (auch wenn ihr heute noch lähmend ideologische, demokratische, lokalistische, libertäre, kirchliche und andere Einflüsse gegenüberstehen). Sie hat auf einem immensen Gebiet der Erde das Auftreten von zahlenmäßig mächtigen Kernen der Arbeiter_innenklasse bewirkt, die nicht mehr in zwei oder drei Mutterstädten isoliert, sondern in dicht besiedelten Gebieten konzentriert sind. Trotzdem hat sie gegen sich selbst die objektiven Grundlagen für eine Rückkehr der Arbeiter_innenklassen gelegt, mit viel mehr physischem Gewicht als zu Beginn des Jahrhunderts. Diese erscheinen heute als bloße Zuschauer eines Prozesses, der zu plötzlich eintritt, um nicht davon überrumpelt zu werden.

Doch der gleiche Prozess bietet ihnen im Inneren keine Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, während die angeblichen westlichen Paradiese ihnen gerade jetzt das Schauspiel der steigenden Arbeitslosigkeit in den USA wie in Großbritannien, Frankreich wie in Italien bieten, ganz zu schweigen von den „befreiten“ Ländern des nicht-sowjetischen Ostens; von einer Rezession, die kaum durch laute und gleichzeitig vage Ankündigungen eines kleinen Wiederauflebens verdeckt wird; von öffentlichen Haushalten im ängstlichen Defizit; von regelmäßig steigenden Lebenshaltungskosten; von sensationellen Episoden von Bankbetrug nicht nur in den USA, sondern auch in Japan, Italien, der Schweiz usw. Der Prozess der Rekonstitution des revolutionären Programms und seine Übersetzung in politische (und nicht nur unmittelbare) Kampforgane wird lange und außerordentlich schwierig sein, aber die doppelte „historische Kompensation“, die die Konterrevolution in stalinistischer Form gestern, demokratisch heute, wenn auch nur in einem negativen Sinne, bietet, wird der revolutionären und kommunistischen Erholung helfen, denn die historische Erfahrung lehrt uns, dass sie immer auf der Welle großer historischer Umwälzungen stattfindet.

Es obliegt dem proletarischen Westen, den entscheidenden Beitrag zu diesem Aufschwung zu leisten, für den er Anfang der 20er Jahre nicht die Kraft hatte. Es war seine schwere Verantwortung in der stalinistischen Katastrophe: Er hat zum großen Teil die Verantwortung für die Wiederbelebung der Oktober-Tradition gegen jede demokratische Verführung. Wie Engels abschließend feststellte, Que les grandes destinées s accomplissent! Mögen sich die großen Schicksale erfüllen!

Übersetzt aus: Perchè la russia non era socialista/Warum Russland nicht sozialistisch war

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.