WAS UNSERE PARTEI KENNZEICHNET: Die politische Kontinuität von Marx zu Lenin bis zur Gründung der Kommunistischen Internationale und der Kommunistischen Partei Italiens (Livorno 1921); der Kampf der Kommunistischen Linken gegen die Degeneration der Kommunistischen Internationale, gegen die Theorie des “Sozialismus in einem Land” und die stalinistische Konterrevolution; die Ablehnung von Volksfronten und des bürgerlichen Widerstandes gegen den Faschismus; die schwierige Arbeit der Wiederherstellung der revolutionären Theorie und Organisation in Verbindung mit der Arbeiterklasse, gegen jede personenbezogene und parlamentarische Politik.


 

I.

Bei der Darlegung der Fragen des Kommunismus kommt es nicht selten zu Missverständnissen, wenn Begriffe benutzt werden, die in dem einen oder anderen Sinn benutzt werden können, wie etwa „Demokratie“ und „demokratisch“. Der wissenschaftliche Kommunismus ist seinem Wesen nach die Kritik und Negation der Demokratie. In den Arbeiterorganisationen allerdings befürworten die Kommunisten oftmals die Demokratie, den demokratischen Charakter: so in den Arbeiterräten (Sowjetstaat), in den Gewerkschaften, in der Partei. Darin liegt überhaupt kein Widerspruch, und gegen die Alternative: bürgerliche Demokratie oder proletarische Demokratie – vollkommen gleichbedeutend mit bürgerlicher Demokratie oder proletarischer Diktatur – gibt es nicht das Geringste einzuwenden.

Die marxistische Kritik der Postulate der bürgerlichen Demokratie gründet sich in der Tat darauf, die sozialen Merkmale der bestehenden Klassengesellschaft zu bestimmen und zu zeigen, dass ein System, das die durch die Produktionsweise selbst bedingte Spaltung der Gesellschaft in Klassen mit politischer Gleichheit unter einen Hut bringen will, theoretisch unhaltbar und praktisch ein Schwindel ist. Denn die laut dem Liberalismus durch das Wahlrecht verwirklichte politische Freiheit und Gleichheit machen nur auf einem Boden Sinn, auf dem auch die Lebensbedingungen die gleichen sind; das ist auch der Grund, weshalb wir Kommunisten Wahlverfahren innerhalb der Arbeiterorganisationen akzeptieren: hier befürworten wir den demokratischen Charakter der Körperschaften.

Aber deshalb sollten wir keine zwei Begriffe einführen: einmal um Missverständnissen vorzubeugen und zum anderen, um die Aufwertung eines Begriffs zu verhindern, der die meisten ungeheuer beeindruckt und den wir mühsam zu zerstören suchen. Es wird jedoch nützlich sein, auf das demokratische Prinzip etwas näher einzugehen, auch gerade hinsichtlich der homogenen Klassenorganisationen. Es geht nämlich darum: Wenn wir die Waffen unserer Kritik einerseits auf die Lügen und die Willkür der „liberalen“ Lehren richten, dürfen wir andererseits nicht Gefahr laufen, doch wieder eine ihrer „Kategorien“ zu verklären, nämlich das als Faktor der absoluten Wahrheit und Gerechtigkeit a priori gesetzte demokratische Prinzip, das außerdem nur ein Fremdkörper in unserem ganzen theoretischen Korpus wäre.

II.

Einem Fehler in der politischen Taktik liegt stets ein theoretischer Fehler zugrunde, oder so man will: liegt stets ein Übersetzungsfehler in die Sprache unseres kritischen und kollektiven Bewusstseins vor (1). So spiegelt sich die ganze verheerende Politik und Taktik der Sozialdemokratie in dem grundlegenden Irrtum wider, der Sozialismus sei Erbe jenes wesentlichen Inhalts, den die liberale Lehre gegen die alten, religiös fundierten politischen Doktrinen durchsetzte. Seit seinem ersten Auftreten indes hat der Marxismus die Kritik des demokratischen Liberalismus am Adel und der absoluten Monarchie des ancien régime vollständig erledigt – und eben nicht als Ausgangspunkt für eine weitere Ausarbeitung übernommen. Um unsere Zielrichtung deutlich zu machen, sagen wir gleich, dass er jene Kritik natürlich nicht niedermachte, um die religiösen oder idealistischen Doktrinen gegenüber der materialistischen Aufklärung der bürgerlichen Revolutionäre wieder aufzuwerten, sondern vielmehr um zu zeigen, dass sich die bürgerlichen Materialisten, mit ihrer politischen Philosophie der „Enzyklopädisten“, tatsächlich nur eingebildet hatten, den idealistischen Unsinn überwunden und die Nebel der Metaphysik in Gesellschaftswissenschaft und Politik zerrissen zu haben; zusammen mit ihren Vorgängern mussten sie der wirklichen Kritik der gesellschaftlichen Erscheinungen und dem Marx’schen historischen Materialismus unterliegen.

Wichtig ist auch ein anderer theoretischer Aspekt. Im Laufe ihrer obszönen Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Demokratie haben die Sozialdemokraten die Theorie der proletarischen Revolution so krass entstellt, dass ihr mächtiger revolutionärer Inhalt völlig verloren ging. Um diesen Charakter wieder klar herauszuarbeiten und den Graben zwischen Sozialismus und bürgerlicher Demokratie zu vertiefen, muss man keineswegs die Grundsätze des Sozialismus in einem idealistischen oder neo-idealistischen Sinn revidieren, sondern einfach nur auf die ursprüngliche Kritik unserer Lehrer an den Täuschungen der liberalen Auffassung und der bürgerlich-materialistischen Philosophie zurückgreifen.

Aber bleiben wir beim Thema. Wir wollen zeigen, dass die Kritik des Sozialismus an der Demokratie im Grunde die demokratische Kritik an den alten politischen Philosophien widerlegte, den angeblich allgemeinen Gegensatz zwischen beiden widerlegte bzw. andersherum ihre theoretische Verwandtschaft bewies, so wie das Proletariat ja auch in praktischer Hinsicht vom Übergang der Staatsmacht aus den Händen des Feudaladels, der Monarchie und des Klerus in diejenigen der jungen Handels- und Industriebourgeoisie nicht viel zu erwarten hatte. Und die Beweisführung, dass die neue, bürgerliche Philosophie die alten Irrtümer der Despotie nicht überwunden, sondern nur ein Gespinst aus neuen Trugschlüssen hervorgebracht hatte, ging mit dem Auftreten der revolutionären Bewegung des Proletariats einher, was konkret die Negation des bürgerlichen Anspruchs implizierte, die gesellschaftlichen Angelegenheiten auf ewige und mittels des allgemeinen Wahlrechts und des Parlamentarismus auf friedliche und unbegrenzt vervollkommnungsfähige Grundlagen gestellt zu haben.

Den alten, auf religiösen Anschauungen oder direkt auf dem Prinzip der göttlichen Offenbarung beruhenden politischen Lehren zufolge sind es übernatürliche, das Bewusstsein und den Willen der Menschen lenkende Kräfte, die bestimmten Individuen, Familien oder Ständen die Aufgabe anvertraut hätten, das gemeinschaftliche Leben zu leiten und zu regieren, weshalb sich auch das Recht des Monarchen auf göttliche „Autorität“ gründe. Die sich gleichzeitig mit der bürgerlichen Revolution behauptende demokratische Philosophie setzte dem die Proklamation der moralischen, politischen und juristischen Gleichheit aller Bürger, ob Adligen, Kirchenfürsten oder Plebejern, entgegen; sie forderte, die „Souveränität“ aus dem engen Kreis der Stände oder Dynastie in die allgemeine Sphäre der auf Wahlen basierenden Volksabstimmung zu übertragen, so dass die Staatshäupter nach dem Willen der Mehrheit aller Bürger ernannt würden.

Dass Priester und religiöse Philosophen diese Auffassung verfluchten, war nicht Grund genug, um sie als endgültigen Sieg der Wahrheit über die finstren Mächte hinzustellen, obschon der „Rationalismus“ dieser politischen Philosophie lange Zeit als letztes Wort in der Gesellschaftswissenschaft und der Staatskunst galt und sich ihm viele Sozialisten verbunden fühlten. Die Behauptung, derzufolge mit den Grundlagen für eine Regierungsbildung nach dem demokratischen Mehrheitsrecht die Zeit der „Vorrechte“ abgelaufen sei, kann der marxistischen Kritik nicht standhalten, weil der Marxismus ein ganz anderes Licht auf das Wesen der gesellschaftlichen Erscheinungen wirft. Als bestechend logisches Bauwerk erscheint jene Auffassung nur dann, wenn man annimmt, die Ansichten, die Meinungen, das Bewusstsein eines jeden Wählers hätten das gleiche Gewicht, und seine Stimme ermächtige dazu, die öffentlichen Angelegenheiten zu regeln. Folgende Überlegung soll vorerst genügen, um zu zeigen, wie wenig real und „materialistisch“ dieser Begriff von der Sache ist: Jeder Mensch gilt hier als vollständige, in sich geschlossene „Einheit“ eines Systems, das aus lauter solch potenziell untereinander gleichwertigen Einheiten zusammengesetzt ist; und statt seine Willensäußerungen ins Verhältnis zu seinen Lebensbedingungen, das heißt, den Beziehungen zu den anderen Menschen zu setzen, werden sie als Ausdruck seiner „Souveränität“, seiner Autonomie, theoretisiert. Was nichts anderes bedeutet, als das Bewusstsein noch immer jenseits der konkreten Widerspiegelung der Tatsachen und materiellen Determination anzusiedeln, es als ein in jedem Organismus entzündetes Licht zu begreifen, ganz gleich, ob dieser Organismus gesund oder krank ist, ob er bedürftig ist oder seine Bedürfnisse befriedigt werden. Ein nicht fassbarer Schöpfer trage jedenfalls für jeden gleichermaßen Sorge, doch nicht Er selbst bestimme den Herrscher, sondern verleihe einem jedem die gleiche Fähigkeit, ihn zu erwählen. Trotz ihrer Betonung von Rationalität beruht die demokratische Ideologie auf einer von einer naiven Metaphysik gekennzeichneten Voraussetzung. Sie unterscheidet sich nicht großartig vom „freien Willen“, den die katholische Religion unterstellt, um entweder die Absolution zu erteilen oder zu verdammen. Dadurch, dass sich die demokratische Ideologie außerhalb der Zeit und der geschichtlichen Umstände einrichtet, ist sie dem Spiritualismus nicht minder verhaftet als es die Philosophien waren, nach denen jede Autorität von Gott ausgeht und die Monarchien auf göttlichem Recht beruhen.

Wer diese Gegenüberstellung vertiefen möchte, muss sich nur vor Augen führen, dass die demokratische Lehre bereits viele Jahrhunderte vor der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und der großen französischen Revolution von Denkern aufgestellt wurde, die noch ganz auf dem Boden des Idealismus und der Metaphysik standen. Im Übrigen hat die französische Revolution zwar die Altäre des Christengottes im Namen der Vernunft gestürzt, aber aus der Vernunft selbst dann einen neuen Gott gemacht.

Diese mit dem Wesen der marxistischen Kritik unvereinbare metaphysische Prämisse ist nicht nur den Denkgebäuden des bürgerlichen Liberalismus eigen, sondern allen Verfassungslehren und Gesellschaftsentwürfen, die sich auf den „immanenten Zweck“ (2) bestimmter gesellschaftlicher und staatlicher Verhältnisse gründen. Seine Geschichtsauffassung formulierend, zerstörte der Marxismus zugleich den mittelalterlichen Idealismus, den bürgerlichen Liberalismus und den utopischen Sozialismus.

III.

Diesen nebulösen Gesellschaftsverfassungen, den aristokratischen wie den demokratischen, den autoritären oder liberalen (denen die anarchistische Anschauung aufgrund ihrer ebenfalls verschwommenen Vorstellung einer Gesellschaft ohne gesellschaftliche hierarchische Gliederung und ohne Machtvertretungen nicht unähnlich ist), setzte der kritische Kommunismus eine sehr viel tiefere Untersuchung der Struktur und der Ursachen der gesellschaftlichen Verhältnisse entgegen, welche den Lauf der Geschichte in ihrer komplexen Entwicklung kennzeichnen, sowie eine genaue Analyse des Charakters dieser Verhältnisse in der kapitalistischen Epoche und eine Reihe mächtiger Thesen ihrer weiteren Entwicklung und Transformation; hinzu kommt heute noch der großartige theoretische und praktische Beitrag der proletarischen Revolution in Russland.

Es wäre überflüssig, hier näher auf die bekannte Lehre des ökonomischen Determinismus und die Beweisführung seiner Tiefe bei der Erklärung der historischen Ereignisse und gesellschaftlichen Systeme einzugehen. Dadurch, dass vom Terrain der Produktion und Ökonomie und den daraus entspringenden Klassenverhältnissen ausgegangen wird, werden gleichermaßen konservative wie utopistische Apriorismen beseitigt und der Weg für eine wissenschaftliche Erklärung der verschiedenen juristischen, politischen, militärischen, religiösen und kulturellen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens frei gemacht.

Wir beschränken uns hier darauf, durch den geschichtlichen Verlauf hindurch grob den Entwicklungsstufen zu folgen, die die gesellschaftlichen Organisations- und menschlichen Gemeinschaftsformen gezeichnet haben, nicht nur im Staat, einem abstrakten Gebilde einer alle Individuen vereinigenden Gemeinschaft, sondern auch in den Organismen, deren Herausbildung das Ergebnis der jeweiligen Beziehungen zwischen den Menschen ist. Das Verständnis jeder gesellschaftlichen hierarchischen Ordnung, ob in einem sehr weiten oder sehr engen Rahmen bestehend, muss sich auf die Beziehungen zwischen den Menschen gründen, denen ihrerseits wieder eine Aufgabenteilung zugrunde liegt.

Wir begehen keinen groben Fehler, wenn wir uns zunächst einmal eine Lebensform der menschlichen Gattung ohne jede organisatorische Gliederung vorstellen. Die wenigen Menschen konnten von den Gaben der Natur leben, ohne sie bearbeiten oder umformen zu müssen; nach dieser Seite hin war der Einzelne nicht auf seinesgleichen angewiesen. Die einzigen, allen Gattungen gemeinsamen Beziehungen waren die der Reproduktion, doch für die menschliche Gattung, und nicht nur für sie, reicht dies schon aus, um ein Beziehungssystem und eine entsprechende hierarchische Gliederung zu errichten, z.B. in der Familie. Ohne auf ihre verschiedenen Formen: polygam, polyandrisch oder monogam, näher einzugehen, stellen wir hier nur fest, dass sie die embryonale Form eines organisierten gemeinschaftlichen Lebens auf Grundlage einer Aufgabenteilung bildet, und diese ist unmittelbar physiologisch bestimmt: Die Mutter betreut die Nachkommen und zieht sie auf, der Vater kümmert sich um die Jagd, die Beute und den Schutz vor äußeren Feinden.

Wie bei den weiteren Entwicklungsphasen der Produktion und des Wirtschaftslebens, so macht es auch im Hinblick auf diesen Urzustand, wo man von Produktion und Wirtschaft noch kaum reden kann, keinen Sinn, sich bei der abstrakten Frage aufzuhalten, was denn nun die eigentliche Einheit bilde, das Individuum oder die Gemeinschaft. Biologisch stellt das Individuum zweifellos eine Einheit dar, aber es ist nur metaphysische Hirnakrobatik, es deshalb zur Grundlage gesellschaftlicher Strukturen zu erklären. Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus können nicht alle diese Einheiten denselben Stellenwert haben, denn die Gemeinschaft besteht aus Verhältnissen und Formierungen, worin die Rolle und die Tätigkeit jedes Einzelnen infolge der vielfältigen Einflüsse der Umwelt und des Milieus keine individuelle, sondern eine kollektive Funktion haben. Selbst in diesem Falle also, wo wir von einer gesellschaftlichen Organisation oder überhaupt einer Gesellschaft noch gar nicht sprechen können, widerlegt die durch physiologische Faktoren bedingte Gliederung in der Familie schon jene willkürliche Darstellung, nach der das Individuum eine nicht weiter teilbare Einheit (das ist der Wortsinn des Begriffs Individuum) bilde und andererseits die komplexeren Formen aus der Summe lauter solcher Einheiten bestünden, wobei deren Besonderheit und nach einer gewissen Seite hin Gleichwertigkeit gewahrt bliebe. Offensichtlich existiert auch die Gesellschaft nicht als Einheit, denn die Beziehungen zwischen den Menschen, ja das bloße Wissen um die Existenz der  anderen, sind äußerst begrenzt und gehen über den Kreis der Familie oder des Clans kaum hinaus. Eine sich von selbst aufdrängende Schlussfolgerung können wir hier vorwegnehmen: Die Gesellschaft war noch nie eine „Einheit“, selbst in der Zukunft wird sie es wahrscheinlich nur als, mathematisch gesprochen, „Grenzwert“ sein, dem wir uns durch die Aufhebung der Klassen und der Staatsgrenzen allmählich annähern werden.

Nur wenn man von einer wirklichkeitsfremden Voraussetzung ausgeht, die im Grunde sogar in den modernsten Darlegungen nur die Begriffe von göttlicher Offenbarung, Schöpfung, bzw. Autonomie des Geistes gegenüber den natürlichen und organischen Tatsachen reproduziert, könnte die Einheit: „Individuum“ als Element von sozialen Schlussfolgerungen und Konstruktionen oder auch als der Negation der Gesellschaft genommen werden. Die religiöse oder idealistische Anschauung, wonach der göttliche Schöpfer oder eine das Schicksal der Welt lenkende Kraft aus jedem Individuum ein autonomes, genau bestimmtes, bewusstes, wollendes und selbstverantwortliches Molekül des gesellschaftlichen Gefüges mache, unabhängig von den materiellen Lebensbedingungen – diese Anschauung wird in den Auffassungen des demokratischen Liberalismus und des anarchistischen Individualismus bloß dem Anschein nach verändert: Von der Seele, als vom Höchsten Wesen entfachter Funke, gelangen wir nur zur subjektiven Souveränität des Wählers oder zur unbegrenzten Autonomie des Bürgers in einer keinen Gesetzmäßigkeiten gehorchenden Gesellschaft. So entschlossen „materialistisch“ sich die ersten liberalen Bourgeois und Anarchisten auch gaben, im Lichte der marxistischen Kritik leiden ihre Philosopheme doch an der gleichen Naivität wie ihre Vorgänger.

Diese Anschauung hat ihre Entsprechung in der gleichermaßen idealistischen Annahme der Gesellschaft als vollkommener Einheit, des gesellschaftlichen „Monismus“, errichtet auf der Grundlage des unser Gattungsleben lenkenden und bestimmenden göttlichen Willens. Als wir uns weiter oben mit dem Urzustand des gemeinschaftlichen Lebens befassten und auf die Familienorganisation stießen, kamen wir zum Ergebnis, dass wir bei der Untersuchung des Gattungslebens und seiner Entwicklungsstufen ohne die metaphysische Hypothese auskommen, derzufolge das Individuum oder die Gesellschaft die eigentliche „Einheit“ bilde. Wir können indessen positiv sagen: Wir haben hier einen auf einheitlicher Grundlage organisierten Gemeinschaftstypus, die Familie. Aber wir werden uns hüten, nun in der Familie einen starren und ewigen Typus verkörpert zu sehen oder sie gar als Modell des gemeinschaftlichen Lebens zu idealisieren – wie es der Anarchismus oder die absolute Monarchie bezüglich des Individuums macht. Wir stellen lediglich die Existenz dieser ursprünglichen Einheit menschlicher Organisation fest: Ihr werden andere Formen folgen, sie selbst wird sich in vielerlei Hinsicht verändern und ein Bildungselement anderer Gemeinschaftsformen werden, oder – wie wir annehmen dürfen – in sehr viel weiter fortgeschrittenen Gesellschaftsformen verschwinden. Wir verspüren nicht das geringste Bedürfnis, aus Prinzip für oder gegen die Familie, oder auch für oder gegen den Staat zu sein. Uns liegt daran, die Entwicklung dieser Form menschlicher Organisation so gut wie möglich zu erfassen. Wenn wir uns fragen, ob sie eines Tages (5) verschwinden wird, so tun wir das so unvoreingenommen wie es geht, denn es entspricht nicht unserer Denkweise, sie von vornherein als heilig und unantastbar oder umgekehrt als schädlich und der Zerstörung würdig anzusehen. Das ist Sache des Konservatismus und seiner Kehrseite (also der Ablehnung jeder Form gesellschaftlicher Organisation und Gliederung), die beide theoretisch gleich schwach sind und praktisch zu keinem Ergebnis führen.

Wir lassen also die herkömmliche Gegenüberstellung der Kategorien Individuum und Gesellschaft beiseite und sehen uns die Bildung und Entwicklung anderer Einheiten, d.h. anderer organisierter Gemeinschaftsformen im Laufe der Menschheitsgeschichte an. Es handelt sich um auf bestimmte Aufgaben- bzw. Arbeitsteilungen und soziale Hierarchien bzw. Gliederungen gegründete mehr oder minder große Gemeinschaften, die als Faktoren und Akteure des gesellschaftlichen Lebens auftreten. Nur bedingt lassen sie sich mit organischen Einheiten (also Lebewesen) vergleichen, dessen Zellen – deren Stelle dann Menschen oder Menschengruppierungen einnähmen – verschiedene Funktionen erfüllen und verschiedene Bedeutungen haben. Aber auch dieser Vergleich hinkt, denn ein Lebewesen hat bestimmte Grenzen und macht eine biologische Entwicklung durch, an deren Ende es stirbt. Anders die organisierten gesellschaftlichen Einheiten: Sie haben keine festen Grenzen und erneuern sich unaufhörlich, indem sie sich, gleichzeitig auflösend und wieder neubildend, miteinander verflechten. Uns ist wichtig zu zeigen, und dazu haben wir uns mit dem ersten, auf der Hand liegenden Beispiel der Einheit „Familie“ länger befasst, dass, wenn diese Einheiten auch selbstverständlich aus Individuen bestehen und ihre Zusammensetzung wechselt, sie dennoch „alle“ als Organ, als Ganzes handeln, so dass ihre Zerfällung in individuelle Einheiten nur eine mythologische und unwirkliche Bedeutung hat. Das Element: „Familie“ besitzt ein einheitliches Leben, das nicht durch die Anzahl der in ihr zusammengeschlossenen Individuen, sondern durch deren Beziehungen zueinander definiert ist. So hat, um es banal auszudrücken, eine aus einem Mann, Frauen und einigen Alten bestehende Familie nicht das gleiche Gewicht wie eine, die neben den Eltern noch einige junge und kräftige Söhne zählt.

Schon in dieser ersten, aus Einzelnen gebildeten Einheit: „Familie“ sehen wir erste Aufgabenteilungen, erste Formen von Hierarchie, Autorität, von Leitung der einzelnen Tätigkeiten, von Verwaltung, und im Laufe der Zeit gehen die Menschen durch unzählige andere Organisationsformen hindurch, die immer breiter und vielschichtiger werden. Der Grund dieser zunehmenden Komplexität liegt darin, dass eben die aus einer immer größeren gesellschaftlichen Differenzierung hervorgehenden sozialen Hierarchien und Beziehungen komplexer werden, welche ihrerseits durch die Produktionssysteme determiniert sind, in denen Wissenschaft und Technik der menschlichen Tätigkeit zur Erzeugung einer immer größeren Anzahl von Produkten (im weitesten Sinne des Wortes) verhelfen, die geeignet sind, die Bedürfnisse immer größerer und zu höheren Lebensformen sich entwickelnder Gesellschaften zu befriedigen. Will man den Entstehungs- und Transformationsprozess verschiedener menschlicher Organisationen und den Mechanismus ihrer Beziehungen innerhalb der Gesamtgesellschaft erfassen, so muss der Ausgangspunkt der Untersuchung die Entwicklung der Technik und der ökonomischen Verhältnisse sein, die insoweit aus der Stellung der Einzelnen hervorgehen, als das produktive Räderwerk ihnen ihre jeweiligen Funktionen zuweist. Gestützt auf eine solche Untersuchung lassen sich Entstehung und Entwicklungsstufen von Dynastien, Ständen, Armeen, Staaten, Imperien, Zünften und Parteien verfolgen. Auf dem Höhepunkt dieser komplexen Entwicklung kann man sich die Form einer organisierten Einheit vorstellen, die mit den Grenzen der Menschheit selbst zusammenfällt, indem eine rationelle und gesellschaftliche Aufgabenteilung zwischen allen verwirklicht wird, und man kann über die Bedeutung und die Grenzen sprechen, die ein hierarchisches System gemeinschaftlicher Verwaltung in dieser höheren Form menschlichen Zusammenlebens haben wird.

IV.

Wenn wir nun zur Untersuchung jener homogenen Organismen kommen, deren innere Beziehungen auf dem gegründet sind, was gemeinhin das „demokratische Prinzip“ genannt wird, wollen wir zunächst einmal zwischen solchen organisierten Gemeinschaften unterscheiden, deren Hierarchie von außen bestimmt wird und solchen, die sie aus sich selbst heraus, in ihrem Innern, bilden. Nach den religiösen Anschauungen und der reinen Obrigkeitslehre ist jede menschliche Gesellschaft in jeder Epoche eine homogene Gemeinschaft, die ihre Hierarchie durch übernatürliche Mächte empfängt; auf die Kritik dieser unserer ganzen Erfahrung widersprechenden metaphysischen und flachen Auffassung wollen wir hier nicht noch einmal zurückkommen. Die Hierarchie ist ein notwendiges Produkt der Aufgabenteilung, wie in der Familie. Als sie sich zur Sippe, zum Stamm erweiterte, musste sie sich zum Zwecke der Bekämpfung anderer Organisationen organisieren: Die militärischen Hierarchien entstanden, insofern demjenigen die Befehlsgewalt anvertraut wurde, der die gemeinsamen Kräfte am besten einzusetzen in der Lage war. Könige, Heerführer und Priester wurden ursprünglich gewählt, aber das Kriterium für ihre Wahl, nämlich das gemeinsame Interesse, welches um Jahrtausende älter als der moderne demokratische Stimmenfang ist, wurde später von anderen Kriterien für die Bildung von Hierarchien verdrängt: War es einst ein durch besondere Begabungen und Funktionen erreichter Rang, dessen Inhaber am meisten Einfluss auf die Weitergabe dieses Ranges hatte, entstehen nun – vermittels Erbfolge oder auch durch Initiationsgemeinschaften wie Schulen, Sekten oder Kulten – Kastenprivilegien oder Standesvorrechte.

Doch wir haben, wie gesagt, nicht vor, dem ganzen Bildungsprozess der Stände und dann Klassen zu folgen. Über die Arbeitsteilung, die natürlich notwendig ist, wird jedenfalls ein Macht- und Einflussmonopol gestülpt, das mit der privilegierten Stellung bestimmter Stände im ökonomischen Getriebe einhergeht. Jeder leitende Stand hatte sich auf die eine oder andere Art und Weise eine eigene organisierte Hierarchie gegeben, und so taten es auch die ökonomisch privilegierten Klassen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Mittelalter schloss sich der Landadel, um seine Vorrechte gegen die Angriffe anderer Klassen zu schützen, zu einer Organisationsform zusammen, an dessen Spitze die Monarchie stand; von der Bildung der in ihren Händen konzentrierten staatlichen Gewalt waren alle anderen Bevölkerungsschichten ausgeschlossen; der Staat war die Organisation des vom Klerus gestützten Feudaladels, und das wichtigste Herrschaftsinstrument war das Heer. Wir haben hier einen Organisationstypus vor uns, dessen Hierarchie von außen bestimmt wird: Es ist der König, der die militärischen Ränge verleiht, und das Heer gründet sich auf den passiven Gehorsam all seiner Mitglieder. Jeder Staat besitzt die Hoheit, eine Reihe hierarchisch gegliederter Exekutivorgane, wie Heer, Polizei, Gerichtswesen und Bürokratie zu konstituieren und zu instituieren. Die Einheit „Staat“ lebt also von der Tätigkeit der Individuen aller Klassen, organisiert ist er jedoch auf Basis einer einzigen Klasse oder jedenfalls sehr wenigen, denen die Befugnis, seine hierarchische Gliederung zu errichten, vorbehalten bleibt. Die anderen Klassen bzw. alle Gruppen, denen nur zu deutlich vor Augen steht, dass die bestehende Staatsorganisation mitnichten die Interessen und Bedürfnisse aller gewährleistet, obschon eben dies behauptet wird, versuchen eigene Organisationen ins Leben zu rufen, um ihre Interessen durchzusetzen, und zwar auf Basis der gleichen Stellung aller ihrer Mitglieder in Produktion und Wirtschaftsleben.

Wenn wir uns nun jenen Organisationen zuwenden, die sich ihre eigenen Strukturen geben, und wir uns die Frage stellen, wie ihr Aufbau zu bestimmen ist, um die gemeinschaftlichen Interessen aller ihrer Mitglieder zu wahren und um zu verhindern, dass sich privilegierte Schichten herausbilden, stoßen wir auf das dem demokratischen Prinzip folgende Verfahren, unter allen Mitgliedern abzustimmen und nach dem Mehrheitsvotum diejenigen zu benennen, die die verschiedenen Posten in der Hierarchie einnehmen sollen. Wenn es um die Einführung dieses Verfahrens in viel engeren Organisationen wie Gewerkschaften und Parteien geht, muss unsere Kritik sehr viel weniger streng ausfallen als wenn beabsichtigt wird, es auf die bestehende Gesellschaft (oder bestimmte Nationen) anzuwenden. Im letzten Fall ist es ganz klar abzuweisen, denn es gründet sich auf nichts, berücksichtigt in keiner Weise die ökonomische Stellung der Einzelnen und erhebt den Anspruch, das System sei an und für sich vollkommen, ganz unabhängig von der jeweiligen Entwicklungsstufe, die die nämliche Gemeinschaft durchläuft.

Die Konsequenz der aufgrund ökonomischer Vorrechte deutlichen Spaltung in Klassen ist, dass Mehrheitsentscheidungen jede Bedeutung verlieren. Unsere Kritik entlarvt den Schwindel, wonach der aus den liberalen Verfassungen hervorgehende demokratische und parlamentarische Staatsmechanismus eine Organisation aller im Interesse aller sei. Solange Interessengegensätze und Klassenkämpfe bestehen, kann es keine einheitliche Organisation geben, und der Staat bleibt trotz des äußeren Scheins von Volkssouveränität das Organ der ökonomisch herrschenden Klasse und das Instrument zum Schutz ihrer Interessen. Auch wenn ihre politischen Vertretungen (die parlamentarischen Organe) demokratisch gewählt werden, betrachten wir die bürgerliche Gesellschaft als einen Gesamtkomplex verschiedener Organisationen und Vereinigungen, von denen sich viele um den mächtigen und zentralisierten politischen Staat scharen, nämlich jene aus den privilegierten Schichten hervorgegangenen Organisationen, denen es um die Sicherung der bestehenden Gesellschaftsordnung geht. Einige andere verhalten sich neutral oder ändern von Fall zu Fall ihre Haltung gegenüber dem Staat, und schließlich entstehen Organisationen innerhalb der besitzlosen und ökonomisch ausgebeuteten Klassen, die gegen den bestehenden Klassenstaat gerichtet sind. Wie der Kommunismus zeigt, hat das auf der rechtlichen und politischen Gleichheit aller beruhende demokratische oder Mehrheitsprinzip nur formellen Charakter, solange die ökonomisch bedingte Klassenspaltung besteht – es taugt nicht, den Staat als organisierte Einheit der ganzen Gesellschaft oder Nation zu charakterisieren. Zwar stützt sich die politische Demokratie auf diese Behauptung, re vera (3) ist sie eine Form, die der spezifischen Herrschaft der kapitalistischen Klasse und ihrer tatsächlichen Diktatur zur Wahrung ihrer Privilegien entspricht.

Auf die schlagende Kritik des Marxismus an dieser falschen Auffassung müssen wir also nicht weiter eingehen. In der politischen Demokratie wird jeder „Stimme“ – gleich ob sie einem durch körperliche Mühen zermürbten Arbeiter oder einem reichen Müßiggänger, einem gerissenen Industriellen oder einem Arbeiter gehört, der tief im Elend steckt, aber die Ursachen seiner Bedrückung nicht kennt und keinen Ausweg sieht – der gleiche Grad an Mündigkeit und Reife zugesprochen; die einen wie die anderen müssen nur von Zeit zu Zeit ihrer souveränen Aufgabe nachkommen: Das genügt dann, um für lange Zeit Ruhe und Ordnung bei all jenen zu erzwingen, denen nach der Wahl von der staatlichen Politik und Exekutive die Haut abgezogen wird.

V.

Nachdem wir geklärt haben, dass dem demokratischen Prinzip kein immanenter Zweck innewohnt und es als Prinzip nichts taugt, es vielmehr ein einfaches Verfahren ist, das der banalen arithmetischen Regel folgt: die Mehrheit hat Recht und die Minderheit Unrecht, wollen wir uns nun damit befassen, ob und inwieweit dieses Verfahren nützlich und ausreichend ist, wenn es sich um Organisationen – auch unter Berücksichtigung ihres geschichtlichen Entwicklungsprozesses – handelt, deren Mitgliedschaft homogen und nicht durch tiefe Gegensätze hinsichtlich ihrer ökonomischen Bedingungen gespalten ist.

Ist das demokratische Verfahren in der Diktatur des Proletariats, also jener Staatsform, die nach dem revolutionären Sieg der aufständischen Klasse über die bürgerliche Staatsmacht errichtet wird, brauchbar, so dass sie aufgrund ihres Vertretungssystems und hierarchischen Aufbaus zu Recht als „proletarische Demokratie“ bezeichnet werden kann? Wir müssen hier ganz unvoreingenommen vorgehen. Schon möglich, dass wir zu dem Ergebnis kommen, das Verfahren sei als solches, mit gewissen Abänderungen und solange der Gang der Dinge nicht ein besseres Verfahren hervorbringt, durchaus tauglich. Doch müssen wir auch im Auge behalten, dass es keinen einzigen Grund gibt, der dafür spricht, das „Mehrheitsprinzip“ apriori festzuschreiben; das Proletariat ist, am Tag nach der Revolution, noch keine völlig homogene Klasse, noch nicht mal eine einzige Klasse. In Russland etwa liegt die Macht in Händen der Arbeiter und Bauern; jedoch wird bei auch nur flüchtiger Betrachtung der Entwicklung der revolutionären Bewegung schnell deutlich, dass das Industrieproletariat, weniger zahlreich als die Bauernklasse, darin eine sehr viel größere Rolle spielt. Es ist daher folgerichtig, wenn einer Arbeiterstimme in den Arbeiterräten, den Sowjets, ein größeres Gewicht zuerkannt wird.

Wir wollen hier nicht eine vollständige Untersuchung der strukturellen Merkmale des Arbeiterstaates vornehmen. Wir fassen ihn auch nicht unter einem ihm immanenten Gesichtspunkt, wie die Reaktionäre die Monarchie von Gottes Gnaden, die Liberalen den Parlamentarismus mit allgemeinem Wahlrecht oder die Anarchisten die Ablehnung des Staates. Der proletarische Staat als Organisation einer Klasse im Kampf gegen andere Klassen, die ihrer ökonomischen Privilegien beraubt werden müssen, ist eine materielle historische Kraft, ausgerichtet nach den Zielen, die er hat, d.h. nach den Notwendigkeiten, die ihn hervorbrachten. In bestimmten Phasen sind es Abstimmungen auf breitester Basis, die die Entwicklung vorantreiben, in anderen Momenten wiederum geschieht dies infolge der Aufgaben, die kleine und mit uneingeschränkter Vollmacht ausgestattete Exekutivorgane zu erfüllen haben (4)Wesentlich ist, dass der Arbeitermacht die Mittel und Waffen an die Hand gegeben werden, um der Bourgeoisie ihre ökonomischen Privilegien zu nehmen und ihren politischen und militärischen Widerstand zu brechen. Nur so kann der Arbeiterstaat die Aufhebung der Klassen anbahnen und den Boden für eine immer tiefere Transformation seiner eigenen Struktur und Funktion vorbereiten.

Außer Frage steht: Während die bürgerliche Demokratie den eigentlichen Zweck hat, jeden Einfluss der großen proletarischen und kleinbürgerlichen Massen auf die Staatsführung auszuschließen, die eben den großen Oligarchien der Industrie, der Finanz und des Grundbesitzes vorbehalten ist, muss die proletarische Diktatur die breitesten Schichten der proletarischen und auch halb-proletarischen Massen in den Kampf, den sie verkörpert, einbinden können. Das ist nicht mit Hilfe eines flächendeckenden Abstimmungs- oder Wahlapparates machbar – außer für diejenigen, die tief in bürgerlichen Vorurteilen stecken. Ein derartiges Wahlverfahren kann zu viel des Guten tun, noch öfter aber zu wenig, insofern viele Proletarier nach ihrer Stimmabgabe nicht weiter aktiv am Klassenkampf und seinen Erfordernissen teilnehmen würden. Auf der anderen Seite verlangt die Schwere des Kampfes in manchen Phasen schnelle Entscheidungen und Reaktionen und die Kanalisierung aller Anstrengungen in eine gemeinsame Richtung. Um also der Passivität des Proletariats nicht Vorschub zu leisten und gleichzeitig die Zentralisierung zu gewährleisten, gründet der Arbeiterstaat sein Vertretungssystem, wie uns die Lehren der reichen russischen Erfahrung zeigen, auf Merkmalen, die darauf zielen, die Glaubenssätze der bürgerlichen Demokratie zu brechen, weshalb deren Anhänger dann natürlich die Missachtung der Freiheit in Russland beklagen. Tatsächlich aber werden nur die spießbürgerlichen Vorurteile entlarvt, mit denen es die Demagogen noch stets verstanden haben, die Macht der Privilegierten abzusichern. Im diktatorischen Staat des Proletariats sind seine Vertretungskörperschaften gleichzeitig beratend-beschließende und vollziehende Organe und, wenn nicht die ganze Masse, so ist doch eine breite Schicht ihrer Delegierten ständig und nicht nur zeitweise in die Aufgaben des politischen Lebens eingebunden. Hervorzuheben ist, dass diese aktive Teilnahme dem geschlossenen Handeln des ganzen Apparates keinen Abbruch tut, sondern es im Gegenteil stärkt, also gerade durch Kriterien erreicht wird, die denen des bürgerlichen Hyperliberalismus entgegengesetzt sind, was heißt, dass vor allem die Direktwahl und das Verhältniswahlrecht abgeschafft werden, nachdem schon, wie wir oben sahen, der heilige Grundsatz der Stimmengleichheit hinter sich gelassen wurde.

Wir sagen nicht, dass diesen neuen Kriterien der Vertretungskörperschaften prinzipielle Gründe zugrunde liegen: Unter veränderten Umständen können es andere Kriterien sein. Auf jeden Fall aber wollen wir festhalten, dass den Organisations- und Vertretungsformen kein immanenter Zweck unterzujubeln ist; nur anders formuliert finden wir dies in der marxistischen Grundthese, derzufolge „die Revolution keine Frage der Organisationsform ist“ (5). Die Revolution ist im Gegenteil eine inhaltliche Frage, also eine der Bewegung und Aktion der revolutionären Kräfte in einem ununterbrochenen Prozess, der sich nicht theoretisieren lässt, indem sein wirkliches Wesen in einer starren „Verfassungslehre“ festgehalten wird (6).

In den Vertretungen der Arbeiterräte finden wir überhaupt nicht mehr jene typische Regel der bürgerlichen Demokratie, derzufolge jeder Bürger durch Direktwahl seinen Abgeordneten in das oberste Vertretungsorgan, d.h. ins Parlament, wählt. Es gibt im Gegenteil verschiedene Ebenen von Arbeiter- und Bauernsowjets, jede Ebene umfasst immer größere territoriale Einheiten, bis hin zum Sowjetkongress: jeder Gemeinde- und Bezirkssowjet wählt seine Delegierten für die nächst höhere Ebene und zugleich seine Verwaltung, d.h. das jeweilige Exekutivkomitee. An der Basis, d.h. in den Gemeinde- und Bezirksräten, stimmt die ganze Masse ab. Die Wahl der Delegierten für die höheren Räte und für die anderen Posten erfolgt aufgrund von Parteilisten, und zwar als Mehrheits- und nicht als Verhältniswahl. Da es sich im Übrigen zumeist um die Wahl eines einzigen Delegierten handelt, der die Verbindung zwischen zwei Ebenen des Rätesystems herstellen soll, werden zugleich zwei Dogmen des formalen Liberalismus hinfällig, nämlich die Listenwahl und die Verhältniswahl. Da die Räte auf jeder Ebene nicht nur beratende und beschließende, sondern auch vollziehende, eng an die Zentralexekutive gebundene Körperschaften hervorbringen müssen, ist es nur natürlich, dass es sich, je höher die Ebene ist, desto weniger um parlamentarische Schwatzbuden handeln kann, wo endlos disputiert und niemals gehandelt wird, sondern um straffe und geschlossen handelnde Organe, die fähig sind, den politischen Kampf, die politische Tätigkeit und den revolutionären Weg der Massen zu leiten, die auf die geschilderte Weise eingegliedert sind.

Die genannten Zwecke, die keinem Verfassungsentwurf automatisch immanent sein könnten, vervollständigen ein solches System zu einem Ganzen vermittels der Existenz der politischen Partei, die ein erstrangiger Faktor ist und deren bloße Organisationsform weit hinter ihren Inhalt zurücktritt. Ihr kollektives Bewusstsein, das heißt, ihre Theorie, und ihr kollektiver sich in die Tat umsetzender Wille machen es möglich, die Arbeit in Gang zu setzen, die durch die Notwendigkeiten eines langen und beständig fortschreitenden Prozesses bestimmt ist. Die Partei ist das Organ, das den Merkmalen einer geschlossenen und in einheitlicher Richtung handelnden Gemeinschaft am nächsten kommen kann. Tatsächlich umfasst sie nur eine Minderheit, doch die Faktoren, die sie gegenüber allen anderen auch auf breitester Basis gegründeten Vertretungsorganen aufweist, sind eben solche, die die Partei als beste Vertreterin der Gesamtinteressen und -bewegungen ausweisen. In der politischen Partei ist jene Forderung verwirklicht, gemäß der sich alle Mitglieder an der Ausführung der gemeinsamen Arbeit beteiligen, ebenso wie die Lösung aller Fragen angebahnt wird, die der Kampfverlauf und der ökonomische Aufbau aufwerfen und deren sich das Gros der Masse erst bewusst werden kann, wenn sie sich konkret zeigen. Aus all diesen Gründen ist klar, dass wir ein Vertretungssystem vor uns haben, das nicht eines der demokratischen Heuchelei ist, sondern sich auf die Bevölkerungsschicht stützt, die von ihren elementaren gemeinsamen Interessen auf den revolutionären Weg gedrängt wird, und es ist ganz natürlich, dass sie von sich aus die von der Partei vorgeschlagenen Mitglieder wählt: Zeigt sich doch gerade die Partei den Erfordernissen des Kampfverlaufs gewachsen, ebenso wie den Fragen, die man kennen muss, bevor sie auftreten.

Wir werden später noch einige Worte dazu sagen, weshalb wir auch der Partei diese Fähigkeiten nicht einfach deshalb zuschreiben, weil sie sich auf ein besonderes Prinzip gründet: Ihrer Aufgabe als Antriebskraft der revolutionären Aktion einer Klasse kann sie gerecht werden oder auch nicht. Nicht die politische Partei überhaupt, sondern nur eine Partei, die kommunistische, kann die genannte Aufgabe erfüllen, was nicht heißt, dass sie deshalb von vornherein gegen die tausend Gefahren der Versumpfung und Zersetzung gefeit wäre. Die positiven Merkmale, die gewährleisten, dass die Partei auf der notwendigen Höhe des Kampfverlaufes steht, finden sich nicht in ihren Statuten und bloßen Organisationsleitsätzen; durch ihren Entwicklungsverlauf und ihre Teilnahme an den Kämpfen manifestieren sie sich vielmehr in der Herausbildung einer gemeinsamen Richtung, deren Wegweiser gleichermaßen eine Geschichtsauffassung, ein Programm – in dem das kollektive Bewusstsein Gestalt annimmt – und eine strenge Organisationsdisziplin sind. Diese Auffassungen sind dem Leser aus den „Thesen zur Taktik“ des II. Parteitages der KPI bekannt. (7)

Doch kehren wir wieder auf das Vertretungssystem in der proletarischen Diktatur zurück, die, wie wir oben sagten, auf den sukzessiven Ebenen zugleich legislative wie exekutive Organe impliziert. Wir sollten nun näher darauf eingehen, hinsichtlich welcher Aufgaben des gemeinschaftlichen Lebens die exekutiven Funktionen und Initiativen in Kraft treten, denn diese rufen die Räte selbst ja erst ins Leben und bestimmen die Verhältnisse, die ihr sich ständig entwickelndes, daher nicht starr festgeschriebenes System prägen. Wir wollen hier nicht die Frage der endgültigen Form des Vertretungssystems in einer klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft untersuchen. Wie sich die verschiedenen Organisationen entwickeln werden, wenn wir uns dieser Gesellschaft nähern, können wir nicht im Einzelnen vorhersagen, nur die groben Züge lassen sich überblicken. Die Entwicklung wird sich in Richtung einer Verschmelzung aller politischen, exekutiven und ökonomischen Organe vollziehen, während der Staat nach und nach den Charakter eines Zwangsapparates verliert, bis schließlich das Staatswesen selbst (als Herrschaftsinstrument einer Klasse im Kampf gegen die anderen, noch fortlebenden Klassen) abstirbt. Hier wollen wir uns jedoch nur mit der Anfangsphase der Arbeitermacht befassen, wofür sich die Erfahrungen der proletarischen Diktatur in Russland im Laufe der letzten 4½ Jahre heranziehen lassen. Die proletarische Diktatur hat in ihrer Anfangsphase eine ungeheuer schwierige und komplexe Aufgabe zu erfüllen, die sich in drei Tätigkeitsbereiche einteilen lässt: den politischen, den militärischen und den ökonomischen. Sowohl die militärische Verteidigung gegen die inneren und äußeren Angriffe der Konterrevolution als auch die Rekonstruktion der Wirtschaft auf gesellschaftlichen Grundlagen können nur bewältigt werden, wenn alle Kräfte gebündelt und planmäßig und rational eingesetzt werden. Die gesamtgesellschaftliche Aktivität verlangt eine äußerst starke Geschlossenheit, obwohl doch alle Kräfte der ganzen Masse eingesetzt werden, genauer, um alle Kräfte einsetzen zu können. Folglich müssen sich die Organe, die an vorderster Front des Kampfes gegen den äußeren und inneren Feind stehen (die revolutionäre Armee und auch die revolutionäre Polizei), auf eine in Händen des Arbeiterstaates zentralisierte Disziplin und Hierarchie gründen. Auch die rote Armee ist eine organisierte Einheit, deren Hierarchie von außen, d.h. von der politischen Führung des Arbeiterstaates bestimmt wird, dasselbe gilt für die revolutionäre Polizei und das revolutionäre Gerichtswesen. Die Frage des wirtschaftlichen Apparates, den das siegreiche Proletariat errichten muss, um dem neuen Produktions- und Distributionssystem seine Basis zu geben, weist komplexere Aspekte auf. Wir können hier nur kurz wieder daran erinnern, dass das Merkmal, das diesen rationellen Verwaltungsapparat vom Chaos der kapitalistischen Privatwirtschaft unterscheidet, die Zentralisierung ist. Einerseits müssen alle Betriebe auf Grundlage der Ziele eines einzigen Produktionsund Distributionsplans koordiniert und im Interesse der Gesellschaft als Ganzes geleitet werden. Mit dem allmählichen Aufbau des ökonomischen Apparates, aber auch infolge der Krisen, die in einer solchen Umwälzungsperiode unweigerlich von politischen und militärischen Kämpfen begleitet werden, ist andererseits sowohl der Wirtschaftsapparat als auch die jeweilige Stellung der Produzenten darin ständigen Veränderungen unterworfen.

Was leitet sich aus diesen Betrachtungen ab? Im ersten Stadium der proletarischen Diktatur ernennen die Räte der verschiedenen Ebenen zugleich mit den beschließenden Körperschaften der höheren Ebenen auch die exekutiven Organe der lokalen Verwaltung. Die Verantwortung für die militärische Verteidigung muss allerdings ganz in Händen des zentralen Führungsorgans bleiben, ebenso – wenn auch weniger streng – die Verantwortung für die ökonomischen Maßregeln. Die örtlichen Organe haben indessen die Funktion, die Massen politisch einzugliedern, was durch deren Mitwirkung an der Ausführung der gefassten Beschlüsse und durch deren Unterstützung der militärischen und ökonomischen Organisationen verwirklicht wird; damit wird der Boden für die breitestmögliche und beständige Tätigkeit der Massen in allen Bereichen des Gemeinwesens bereitet und zugleich werden sie in den Aufbau der äußerst geschlossenen Organisation, die der Arbeiterstaat darstellt, involviert.

Ohne ihre Formierung in ein Schema zu pressen, lässt sich Folgendes festhalten: Es ist nicht etwa so, dass es auf den unteren und mittleren Ebenen der staatlichen Hierarchie keine Handlungsmöglichkeiten und Eigeninitiativen geben dürfe, es zeigt sich nur, dass es nicht möglich ist, ihre Bildung nach einem Schema entsprechend der Durchführung genau bestimmter militärischer und ökonomischer Aufgaben der Revolution zu theoretisieren, was heißen würde, die proletarischen Wahlgremien nach Zugehörigkeit zu den Produktionsbetrieben oder Armeeabteilungen einzuteilen; solche Gruppierungen verfahren ja nicht nach besonderen Fähigkeiten oder Eignungen, die sich schon allein aus ihrer Form, ihrer Struktur ergeben würden. Die Basisgruppen können daher nach empirischen Kriterien gebildet werden, ja, sie werden sich spontan nach empirischen Kriterien bilden: das können der gemeinsame Arbeitsplatz oder Wohnort sein oder die Garnison oder andere Bereiche des Alltagslebens, ohne dass irgendein Bereich a priori zum Modell erhoben oder umgekehrt als solches verworfen werden könnte. Grundlage für die Vertretungsorgane des revolutionären Arbeiterstaates bleibt jedoch die territoriale Unterteilung: es wird nach Bezirken gewählt. Keine dieser Ausführungen darf jedoch absolut aufgefasst werden – womit wir wieder bei unserer These sind, wonach kein Vertretungsschema zum Prinzip erhoben werden darf und die demokratische Mehrheitsentscheidung in ihrer formellen und arithmetischen Bedeutung nur eine Methode unter anderen ist, um die Verbindungen innerhalb der Körperschaften zu koordinieren. Eine der Methode selbst immanente Notwendigkeit oder Gerechtigkeit kann in keiner Hinsicht geltend gemacht werden, denn zum einen ergeben diese Begriffe für uns Marxisten schlichtweg keinen Sinn und zum anderen haben wir nicht vor, den von uns kritisierten demokratischen Apparat durch ein anderes, automatisch fehler- und makellos funktionierendes Verfahren zu ersetzen.

VI.

Wir meinen, genug darüber gesagt zu haben, wie sich das demokratische Prinzip im bürgerlichen Staat, der angeblich alle Klassen umfasst, darstellt; und auch darüber, wie es in den Organisationen einer einzigen Klasse, den proletarischen Körperschaften als Basis des Staates nach dem revolutionären Sieg, umgesetzt werden kann. Jetzt wollen wir uns noch mit der demokratischen Funktionsweise in der inneren Struktur der Arbeiterorganisationen befassen, die bereits vor (aber auch noch nach) der Machteroberung bestehen, also den Gewerkschaften und der politischen Partei.

Wir haben dargelegt, dass es eine wirkliche organisatorische Geschlossenheit überhaupt nur auf der Basis einer Interessensgleichheit geben kann. Im Falle der künstlichen Vereinigung der verschiedenen Klassen in den bürgerlichen Staatsinstitutionen haben wir die demokratischen und Majoritätsverfahren einer Kritik unterworfen, die ihnen jegliche Bedeutung abspricht, doch diese Kritik spielt keine Rolle, wenn wir das demokratische Verfahren in den Gewerkschaften und der Partei untersuchen, denn ihnen tritt man aus eigenem Antrieb bei, um an ganz bestimmten Aktionsformen teilzunehmen. Aber auch hier darf man sich nicht von willkürlich als „unantastbar“ geltenden Mehrheitsentscheidungen aufs Glatteis führen lassen.

In den Gewerkschaften stimmen die tagespolitischen und materiellen Interessen der Mitglieder anders als in der Partei unmittelbar überein, das heißt, innerhalb des jeweiligen Berufszweiges herrscht eine große Homogenität und der obligatorische Beitritt aller Arbeiter eines bestimmten Berufs- oder Industriezweiges widerspricht durchaus nicht dem Charakter der gewerkschaftlichen Organisation; übrigens kann der obligatorische Beitritt auch in einer bestimmten Entwicklungsphase des Arbeiterstaates opportun sein. Dass auf diesem Gebiet die Quantität der entscheidende Faktor ist und die Stimmenmehrheit große Bedeutung hat, steht außer Frage. Zu diesem formellen Gesichtspunkt kommen noch andere Faktoren hinzu, die innerhalb der Gewerkschaften eine Rolle spielen: Einerseits die Bürokratie und das Funktionärstum, unter deren Kontrolle der Apparat gelähmt wird, und auf der anderen Seite die kommunistischen Gruppen, die in enger Verbindung mit der Partei agieren, um die Gewerkschaften auf das revolutionäre Terrain zu heben. Wenn die Kommunisten in diesen Kämpfen immer wieder nachweisen, dass die Funktionäre die demokratischen Regeln verletzen und auf die Mehrheitsentscheidungen pfeifen, ist das eine richtige Vorgehensweise, denn die rechten Gewerkschaftsführer kehren ja ständig ihre demokratische Gesinnung hervor, und dieser Widerspruch muss natürlich ausgenutzt werden. Dasselbe gilt für die demokratischen Abstimmungsverfahren in der bürgerlichen Politik, ohne dabei die Illusion zu wecken, Wahlen könnten, auch wenn sie korrekt durchgeführt werden, die Not der Arbeiter beseitigen. Es ist richtig, solche Widersprüche auszunutzen, weil wir in den Momenten, in denen die Massen aufgrund der wirtschaftlichen Lage in Bewegung geraten, den Einfluss der revolutionären Gruppen zu Ungunsten der Funktionäre ausdehnen können, deren Einfluss nicht-proletarisch ist und, wenn auch nicht formell, so doch vom Wesen her von Klassen und Kräften herrührt, denen die gewerkschaftliche Organisierung fremd ist. All das heißt mitnichten, etwa auf einen wahren Demokratismus zu pochen, denn auch wenn die Kommunisten von den Massen verstanden werden und sie ihnen deutlich machen können, im Sinne ihrer tiefsten Interessen zu handeln, dürfen und müssen sie die demokratischen Gewerkschaftsregeln bald nutzen, bald brechen. Da also das Kriterium nicht die Demokratie ist, gibt es z.B. auch keinen Widerspruch zwischen folgenden taktischen Haltungen: Solange das Minoritätsrecht in den Satzungen festgeschrieben ist, werden wir in den Führungsorganen eine Minderheitenvertretung wahrnehmen; sobald wir aber die Gewerkschaften erobert haben, werden wir diesen Satzungspunkt streichen, um die Handlungsfähigkeit der Exekutivorgane zu steigern. Unsere Richtschnur in dieser Frage gründet sich auf die genaue Analyse des Entwicklungsverlaufs der Gewerkschaften in der heutigen Phase; es geht immer darum, die Umwandlung von Organen der konterrevolutionären Beeinflussung in Organe des revolutionären Kampfes voranzutreiben. Die inneren Organisationsregeln sind nicht an und für sich von Bedeutung, sondern nur soweit sie diesem Ziel nutzen.

Uns bleibt noch, die Parteiorganisation zu untersuchen, über deren Merkmale wir schon einiges gesagt haben, als wir uns mit der organisatorischen Gliederung des Arbeiterstaates befassten. Grundlage der Partei sind nicht die gleichen tagespolitischen und ökonomischen Interessen wie bei den Gewerkschaften; dafür beruht ihre Geschlossenheit auf einem viel breiteren Fundament, so viel breiter, wie es die Klasse im Verhältnis zu einem Berufszweig ist. Die ganze Arbeiterklasse ist ja die Basis, auf der sich die Partei nicht allein räumlich gesehen erweitert, bis sie Weltpartei ist, sondern auch zeitlich gesehen, insofern sie das spezifische Organ ist, dessen Theorie und Praxis der Spiegel dessen sind, was die verschiedenen Etappen des proletarischen Emanzipationsprozesses kennzeichnen muss, um seinen Sieg zu sichern. Diese allseits bekannten Aussagen drängen bei der Untersuchung der Fragen der innerparteilichen Organisation und Struktur dahin, sich den gesamten Bildungs- und Lebensprozess der Partei im Zusammenhang mit der Komplexität ihrer Aufgaben vor Augen zu halten. Wir können am Schluss dieser bereits längeren Arbeit nicht auf die Einzelheiten der Vorgehensweise eingehen, was z.B. das Abstimmungsverfahren aller Anhänger betrifft, oder die Heranziehung neuer Anhänger, die Besetzung der verschiedenen Posten usw. Zweifellos gibt es bisher nichts Besseres, als sich zumeist an das Mehrheitsprinzip zu halten. Doch wie wir nachdrücklich aufzeigten, besteht kein Grund, aus diesen demokratischen Regeln ein Prinzip zu machen. Neben der Aufgabe der Entscheidungsfindung – vergleichbar mit der Legislative des Staatsapparates – hat die Partei eine Exekutivfunktion, die in den entscheidenden Phasen des Kampfes gar der Funktion einer Armee gleicht, d.h. ein Höchstmaß an Disziplin gegenüber den Führungsorganen verlangt. Im komplizierten Prozess, der zur Bildung der Kommunistischen Parteien führte, ist die Entstehung einer Hierarchie in der Tat eine reale und dialektische zu fassende Tatsache; die Gründe dafür liegen lange zurück und sind das Resultat der gemachten Erfahrungen und der Erprobung ihres Apparates. Wir dürfen jedenfalls eine Mehrheitsentscheidung in der Partei nicht so auffassen, als sei sie von vornherein das Beste, was uns passieren könne, als sei sie ein unfehlbarer und himmlischer Richter, der der Menschheit ihre Oberhäupter sende, woran nur diejenigen glauben, die auch den Heiligen Geist für den Hauptprotagonisten in einem Konklave halten. Sogar in einer Organisation wie der Partei, deren Mitgliedschaft schon infolge des aus eigenem Antrieb erfolgten Beitritts und der Aufnahmebedingungen das Resultat einer Auswahl ist, bedeutet die Mehrheitsentscheidung noch nicht der Weisheit letzter Schluss, denn erst durch die kollektive und auf das Ziel gerichtete Arbeit sind die Mehrheitsbeschlüsse ein Faktor, der die Schlagkraft der Exekutivorgane wirklich stärkt. Dass das Majoritätsprinzip durch ein anderes Verfahren zu ersetzen sein wird, und durch welches, werden wir jetzt nicht zur Diskussion stellen und auch nicht näher untersuchen. Dass sich eine solche Organisation immer mehr von den gewohnten Formalismen des demokratischen Prinzips freimacht, ist natürlich anzunehmen. Wenn sich daher im Rahmen des geschichtlichen Verlaufs zeigen sollte, das andere Faktoren der Entscheidungsfindung, der Wahl und der Problemlösung den realen Erfordernissen der Entwicklung und dem Kampf der Partei besser entsprechen, darf man nicht aus alten Ängsten und Widerständen heraus davor zurückschrecken, sie anzunehmen. (8)

Beim Aufbau unserer innerparteilichen Organisation und der Formulierung unserer Richtlinien ist das demokratische Kriterium für uns bislang ein Behelf, keine unerlässliche Grundlage. Eben deshalb würden wir die bekannte Organisationsformel des „demokratischen Zentralismus“ nicht zum Prinzip erheben. Die Demokratie kann für uns kein Prinzip sein, während der Zentralismus dies zweifellos ist, da die wesentlichen Merkmale der Partei die geschlossene Organisation und Bewegungsrichtung sein müssen. Für die bruchlose Organisation und Struktur der Partei steht der Begriff des Zentralismus, und um die wesentliche zeitliche Kontinuität (d.h. das Ziel, auf das wir zusteuern und die Richtung, die einzuschlagen ist, um die sukzessiven Hindernisse zu überwinden) begrifflich zu fassen, genauer, um beide Begriffe in eins zu setzen, würden wir vorschlagen, das Fundament der kommunistischen Parteiorganisation als „organischen Zentralismus“ zu kennzeichnen. Obschon wir vom demokratischen Behelfsverfahren das beibehalten, was uns nützen kann, könnten wir dann den Begriff „Demokratie“ ad acta legen, an welchem den übelsten Demagogen so viel liegt, und der für alle Ausgebeuteten, Verdammten und Getäuschten nur ironisch klingt. Wir sollten diesen Begriff den Bourgeois wie den Helden des Liberalismus, die sich zuweilen in radikalen Posen gefallen, zum exklusiven Gebrauch überlassen.

Erstmals erschienen in: „Il principio democratico“: Rassegna Comunista, Nr. 18, Februar 1922.

Internationale Kommunistische Partei

Fußnoten:

1) Dieser Text steht im unmittelbaren Zusammenhang mit den „Thesen zur Taktik“ („1921-12-31 – Römer Thesen“), in denen die aktuellen wie auch zukünftigen Bruchlinien zur Politik der Kommunistischen Internationale erstmals organisch dargelegt werden. Die Differenzen zeigen sich exemplarisch in den Direktiven der KI, die zur „Eroberung der Mehrheit“ der Arbeiter aufrufen und als taktisches Mittel zur Eroberung der Macht die politische Einheitsfront propagieren. Anhand des von den Sozialdemokraten, aber auch vielen Kommunisten akzeptierten „demokratischen Prinzips“ versucht Bordiga den immer wieder aufgetischten Mythos: „Demokratie“ zu zerstören. Nicht zuletzt deshalb, um der KP einen größeren Handlungsspielraum zu eröffnen, sich also nicht auf die „demokratischen Spielregeln“ des bürgerlichen Systems, die weit über die Frage: „legal oder illegal“ hinausgehen, einengen zu lassen. Am Rande sei bemerkt, dass hier ein sehr gutes Beispiel für die Propagandaarbeit in der noch jungen KPI vorliegt, die
den Genossen ein Schulungsmaterial an die Hand gibt, das mit einem Minimum an Polemik auskommt und dabei gleichzeitig klare Richtlinien und Handlungsanweisungen vorgibt.

2) Der Ausdruck findet sich etwa bei Hegel, für den der Staat der „immanente Zweck“ der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft ist. Siehe „Kritik des Hegelschen Staatsrechts in MEW 1, S. 203 ff.

3) re vera (lat.): in Wirklichkeit.

4) Man muss sich bei diesen Ausführungen immer vor Augen halten, dass es sich hierbei nicht um einen banalen Regierungswechsel, sondern um den Sprung zu einer anderen Produktionsweise handelt. Und daraus leiten sich auch die entsprechenden Kriterien ab.

5) Aus den Leitsätzen über kommunistische Grundsätze und Taktik: „5. (…) Die Anschauung, als könne man vermöge einer besonderen Organisationsform Massenbewegungen erzeugen, dass die Revolution also eine Frage der Organisationsform sei, wird als Rückfall in kleinbürgerliche Utopie abgelehnt“. Bericht über den II. Parteitag der KPD (Spartakusbund) vom 20. - 24. Oktober 1919 in: „Der deutsche Kommunismus – Dokumente 1915-45“, S. 75, 1963.

6) Der Kommunistischen Linken wurde wiederholt vorgeworfen sie habe die Lenin’sche „Elastizität“ nicht verstanden, was sich nicht nur hier als rein rhetorische Floskel erweist: Gerade weil sich die Sinistra am revolutionären Ziel orientierte, und nicht an tagespolitischen, immediatistischen Erfolgen, konnte sie die jeweiligen Aktions- bzw. Organisationsformen z.B. auch nach organischen, auf Dauer tragfähigen Kriterien bestimmen.

7) Siehe: „1921-12-31 – Römer Thesen“.

8) Vielleicht muss man das heute strenger formulieren: Solange eine Bewegung, Strömung oder Partei noch Probleme mit dem Vorwurf hat, nicht demokratisch bzw. undemokratisch zu sein, ist sie nicht reif für den Kommunismus.

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