Marxismus und Wahlen


1919, in einem Brief an die Arbeiter_innen von Europa und Amerika, hat Lenin geschrieben: „Das bürgerliche Parlament, auch das demokratischste in der demokratischsten Republik, in der das Eigentum der Kapitalisten und ihre Macht erhalten bleibt, ist eine Maschine zur Unterdrückung von Millionen Werktätiger durch kleine Häuflein von Ausbeutern. Solange sich unser Kampf im Rahmen der bürgerlichen Ordnung hielt, mußten die Sozialist_innen, die Kämpfer für die Befreiung der Werktätigen von der Ausbeutung, die bürgerlichen Parlamente ausnutzen als eine Tribüne, als einen Stützpunkt für die propagandistische, agitatorische und organisatorische Arbeit. Sich aber heute, da die Weltgeschichte die Zerstörung dieser ganzen Ordnung, den Sturz und die Niederhaltung der Ausbeuter, den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus auf die Tagesordnung gesetzt hat, sich heute auf den bürgerlichen Parlamentarismus, auf die bürgerliche Demokratie beschränken, sie als „Demokratie“ überhaupt beschönigen, ihren bürgerlichen Charakter vertuschen und vergessen, daß das allgemeine Wahlrecht, solange das Eigentum der Kapitalisten erhalten bleibt, ein Werkzeug des bürgerlichen Staates ist – das heißt, das Proletariat schändlich verraten, auf die Seite seines Klassenfeindes, der Bourgeoisie, übergehen, heißt Verräter und Renegat sein.” (LW, Band 28, Seite 444).

Nach mehr als 80 Jahren seit diesen Worten, mit denen die Rolle des bürgerlichen Parlamentarismus im imperialistischen Zeitalter in Stein gemeißelt und die antiproletarische Funktion des „demokratischen Kretinismus” hervorgehoben wurde – die die Opportunisten von gestern und heute verpestet haben, können wir nur unterstreichen, dass die große Wahltrommel ein weiteres Mal keine andere Funktion hat, als die der absoluten Vollnarkose für die große Masse der Bevölkerung und insbesondere das Proletariat. Wir verfolgen dieses x-te obszöne und holprige Spektakel von Hampelmännern, die – von beiden Seiten – von hohlen und sinnlosen Dingen schwatzen, während Sie sich mit gegenseitigen Beleidigungen und Beschuldigungen erbrechen und während Sie sich zwischen illusorischen Versprechen, Mittagessen und Zusammenkünften mit den Sponsoren der Wahlen herumwälzen und bis zum Äußersten für parlamentarische Pöstchen kämpfen, die auf jeden Fall üppige ökonomische und materielle Pfründe sichern werden, mit denen der „Vertreter des Volkes” seine Existenz und Pension sicherstellen kann, weit entfernt von den Unsicherheiten, die auf dem größten Teil der „öffentlichen Meinung“ lasten, an die man sich richtet. Und der ganze Mechanismus, längst bis zur Perfektion geölt – mit der spektakulären Verstärkung des Events, dank dem fleißigen Interesse der Presse und der bürgerlichen Medien – wird ein sehr mächtiges Werkzeug in den Händen der herrschenden Klasse um die Energien der Arbeiterklasse abzulenken und um sie in eine Sackgasse zu drängen, in der sie entweder versiegen oder zur sozialen Konservierung verwendet werden.

Es ist unsere Aufgabe, im Gestank, der von dieser Orgie von rituellem und immer mehr inhaltsleerem Demokratismus ausgeht, auf die klassischen Positionen des revolutionären Marxismus zu bestehen, Positionen zu denen das Proletariat zurückkehren muss, um den Kampf als Klasse wiederaufzunehmen, die im historischen Rahmen für ihre eigenen Ziele kämpft:

  1. Der parlamentarische Wahlmechanismus war eine große Errungenschaft der revolutionären Bourgeoisie, die auch dadurch ihre Macht konsolidiert hat, nachdem sie mit der Stärke, der Gewalt, der Diktatur, die alten feudalen herrschenden Klassen auseinandergerissen hatte und ihre eigene politische Macht – basierend auf der neuen kapitalistischen Produktionsweise – errichtet hatte.
  2. Dieser Mechanismus beruht auf der demokratischen Mystifikation, nach der jedes einzelne Individuum (unabhängig von den materiellen Bedingungen, unter denen es lebt und handelt) die gleichen Möglichkeiten hätte, um in vollen Zügen zu verstehen, was seine eigenen Interessen sind, unmittelbar und historisch, direkt als Individuum und weitreichend als Klasse.
  3. Dieser Mystifikation hat der Marxismus, ausgehend von 1848, eine Analyse der Realität entgegengesetzt, nach der die enorme, exorbitante und überwältigende Bedeutung der materiellen Lebensbedingungen für die Ideen, die Vorstellungen, die Überzeugungen der einzelnen Individuen offensichtlich ist, und eine Vision des revolutionären Prozesses, die der Klassenpartei (ein Organismus, der über Generationen und spezifische Situationen hinausgeht) die wissenschaftliche Vision des zu folgenden Weges überträgt, um eine alte, dahinsiechende und destruktive Produktionsweise zu zerschlagen (wenn die historischen Bedingungen reif sind).
  4. Die Position der Marxist_innen gegen diesen parlamentarischen Wahlmechanismus war also immer die folgende: keine Illusionen über die reale Möglichkeit, ihn als Instrument für soziale Veränderungen benutzen zu können; seine eventuelle Benutzung nur, um das revolutionäre Programm zu propagieren und zu verbreiten, also ausschließlich als Tribüne, um von dort aus das eigene antiparlamentarische und antidemokratische Kampfprogramm erschallen zu lassen.
  5. Mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine letzte Phase, der des Imperialismus (also, Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise auf weltweitem Niveau, zentrale Rolle des Finanzwesens, extreme Zentralisierung des wirtschaftlichen und politischen Lebens, Verschärfung der Kontraste zwischen dem Kapital der verschiedenen Nationen, immer zerstörerischere Kriege zur Marktkontrolle und zur Aufteilung der Profite), ist es für die Marxist_innen offensichtlich, dass die Rolle des parlamentarischen Wahlmechanismus im Wesentlichen die ist, alle Klassentendenzen in eine ungefährliche Richtung abzulenken, auch jene niedrigschwelligen, die sich in einer Situation von geringen sozialen Konflikten langsam entwickeln können; und deshalb ist es die Aufgabe der Revolutionäre diesen Mechanismus offen zu boykottieren.
  6. Insbesondere in der Situation, die in der Welt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurde (Faschisierung des wirtschaftlichen und politischen Lebens, Entstehung von großen staatlichen und militärischen Monstern, totale Unterwerfung aller Aspekte des sozialen Lebens unter die Zwänge des Kapitals, Schaffung eines eng integrierten Systems von wirtschaftlichen und finanziellen Interessen, Management aller seiner Aspekte durch Zentralbanken und übernationale Finanzinstitute, von der Weltbank zum Internationalen Währungsfonds, usw.), in dieser Situation, sich selber oder andere darüber zu täuschen, dass die Maßnahmen, die das Leben dieser oder jener Nation (oder schlimmer noch dieser Stadt oder jenes Dorfes) betreffen, dieser oder jener Regierung anvertraut werden müssten, die durch „freie“ Wahlen zustande kommen soll, deren Ergebnis zur „Meinung” des „Staatsbürgers” gemacht wird, das bedeutet, eine offen konterrevolutionäre Rolle zu spielen.
  7. Bürgerliche Politik kann nur treu (und stumpfsinnig) den Bedürfnissen des Kapitals gehorchen, das eine internationale gesellschaftliche Kraft ist. Die Reihe von Gaunern und Hampelmännern, die an den Bühnen der Politik vorbeiziehen und nach der Wählerstimme fragen – „weil ansonsten...” – und gegeneinander wettern, als ob sich der Tag des Gerichts genähert hat, ändern die Maske und die Kleider, aber diese Reihe besteht nur und ausschließlich aus sehr kleinen Vollstreckern von Strategien, die über lokale oder nationale Grenzen hinaus gehen: warum sollte man sie jedes Mal legitimieren, indem man sie – je nach Standpunkt – als „Engel des Guten” oder „böse Dämonen”, als reale Urheber von Verbesserungen oder drohende Verursacher von Katastrophen begreift?
  8. Gerade weil die bürgerliche Politik dem Kapital treu gehorcht, ist es mehr als offensichtlich dass, in einer Zeit wie dieser, in der sich die Krise Woche für Woche verschärft, sich die Politik selbst in einer Krise befindet, und dass sie auf der einen wie der anderen Seite die effektivsten und glaubwürdigsten Hampelmänner sucht, aber sie kann sie nicht immer finden: das haben die langen, lächerlichen Qualen der US-Wahlen gezeigt, mit allen ihren Folgen von juristischen Klagen, journalistischen Sensationsnachrichten, Skandalen und billiger Rhetorik.
  9. In diesem Zusammenhang ist „der Ekel vor der Politik” keine Alternative. Die Alternative ist, diesem Hohn mit einer felsenfesten Entscheidung den Rücken zu kehren, und einen ganz anderen Weg einzuschlagen. Dieser Weg führt notwendigerweise zur unnachgiebigen Verteidigung der eigenen Klasseninteressen, der offenen Verweigerung der „höheren Erfordernisse der Nationalökonomie” und jeder Art von Opfer, das als „notwendiger Weg zur Sanierung” ausgegeben wird; er führt zum Bruch von jeglicher Loyalität und Unterstützung der eigenen nationalen Bourgeoisie und deren Staates, sowohl innenpolitisch (wirtschaftliche, politische und soziale Maßnahmen) als auch außenpolitisch (zukünftige militärische Abenteuer); er führt zum Verständnis der dringenden Notwendigkeit, sich als Teil einer unabhängigen internationalen proletarischen Front, unabhängig von jeglicher staatlicher Ausrichtung, zu erkennen; zur geduldigen und täglichen Arbeit um den Faden von einem Internationalismus neu zu knüpfen, der durch mehr als siebzig Jahre Konterrevolution zerrissen wurde; ebenso orientiert dieser Weg der geduldigen und täglichen Arbeit darauf, die revolutionäre Partei in der Arbeiter_innenklasse zu verwurzeln. Auf der Grundlage dieses Weges kann es – wie die Marxist_innen, die diesen Namen verdienen, es immer verkündet haben – mit der Verschärfung der Krise und mit der Drohung eines dritten Weltkrieges, nur die proletarische Revolution und die Diktatur des Proletariats geben (als notwendiger Übergang zur klassenlosen Gesellschaft und somit ohne Staat, zum Kommunismus).
  10. Wenn man diesen Weg nicht einschlägt, oder wenn man behauptet, ihn durch scheinbare Abkürzungen ersetzen zu können, wird die proletarische Klasse neue Massaker und anschließend die Wiedereröffnung eines brutaleren und blutigeren Ausbeutungszyklus erleiden. Aber die Stimmzettel in die Urne zu stecken, in der Hoffnung, dass das „kleinere Übel“ gewinnen wird, bedeutet am nächsten Tag in der Angst der Machtlosigkeit oder im Rausch der Illusion aufzuwachen!

Übersetzt aus: il programma comunista, März/April 2001