Der mühsame Weg des afrikanischen Proletariats


Sowohl aufgrund der Gelüste und des Zugriffs der Imperialismen, als auch aufgrund der Kriege, die hier von ebendiesen Imperialismen geführt werden, und der von ihnen verursachten tragischen Migrationen, gewinnt Afrika auf der Weltbühne zunehmend an Bedeutung. Daher halten wir es für angebracht, die von unserer Partei seit 1952 geleistete Arbeit zu diesem Thema wieder aufzugreifen. Sie bezog sich auf den gesamten afrikanischen Kontinent, von Nord nach Süd, von West nach Ost, von der sogenannten südlichen Mittelmeerküste bis nach Südafrika, von den Ländern des Golfs von Guinea bis nach Subsahara- und Äquatorialafrika, das Herz des Kontinents. Die vielen Artikel, die in unserer Presse veröffentlicht wurde, zeichneten mit ihrem Fokus auf Wirtschaft und Gesellschaft sowie auf die Kämpfe der jungen Bourgeoisie und des ebenso jungen Proletariats Afrikas die Geschichte des Kontinents, ausgehend von der Epoche der Dekolonialisierung der Nachkriegszeit. Insbesondere ist die Geschichte Nordafrikas, wie auch immer man sie behandeln möchte, mit jener des Nahen Ostens verbunden und sei es nur, weil die Gebiete des “fruchtbaren Halbmondes”, die bis nach Marokko reichen, teilweise eine gemeinsame Geschichte, Sprache und Religion haben. Die Sinai-Halbinsel und der Isthmus von Sues stellen zwischen Asien, Afrika und dem Mittelmeer, das den wichtigsten Teil beider Gebiete berührt, eine natürliche Verbindung her.

 

Zusammenfassung

Als sich die imperialistische Natur des Kapitalismus, die Marx schon vorhersah und Lenin analysierte, zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte, geht die Epoche der bloßen kolonialen Plünderung Afrikas zu Ende, die in den Jahrhunderten davor die industrielle Entwicklung Europas begleitet und wenig später, im Laufe der Weltkriege, zum allgemeinen Massaker der zivilen und militärischen proletarischen Bevölkerung geführt hatte. Mit Hilfe ausländischen Kapitals fängt die im Schatten der kolonialen Herrschaft entstandene, junge, aufstrebende Bourgeoisie Afrikas an, die ersten Produktionsapparate aufzubauen; zugleich entstehen mehr oder weniger dauerhafte Arbeiterverbände. Ab dem Ende des zweiten Weltkrieges fängt für Afrika die Epoche der Dekolonialisierung an, d.h. des starken und raschen Übergangs fast aller afrikanischen Länder zur Unabhängigkeit. Dies wird auch von der Komplexität und der Widersprüchlichkeit des „nationalen Wiederaufbaus“ begünstigt, der die gesamte europäische Bourgeoisie beschäftigt. Die nationalistischen Bewegungen Afrikas versuchen, die politische Geographie des Kontinents zu „definieren“: So tauchen die ersten Kontraste auf, die ersten Konflikte zwischen der jungen, einheimischen Bourgeoisie und der imperialistischen europäischen Bourgeoisie. Es handelt sich jedoch um einen Prozess “mit wenig revolutionärem Potential”. Die junge afrikanische Bourgeoisie, die hauptsächlich aus Angestellten und Militär besteht, die sich zwar erneuert haben, aber dennoch das Erbe des kolonialen Regimes antreten, hat keine industrielle Grundlage – mit Ausnahme des Bergbaus (also jener Rohstoffe, auf die es der euro-amerikanische Imperialismus abgesehen hat) – und daher weder die Kraft noch den Willen, mit den alten „einheimischen“ Klassen der Kaufleute und Geschäftemacher (Händler und Geldeintreiber) zu brechen. Zu diesen Anfangsbedingungen kommen noch Organisations- und Führungsunfähigkeit hinzu sowie die von den verschiedenen Imperialismen durchgeführte wiederholte Neuziehung der Landesgrenzen, die Abwesenheit bzw. Knappheit an Kapital (und demzufolge die Unmöglichkeit, sich komplett vom “Mutterland” bzw. von diesem oder jenem Imperialismus zu emanzipieren), die elenden Bedingungen der Landwirtschaft und, was die Politik angeht, vor allem die Abwesenheit einer authentischen revolutionären Perspektive. Die Kämpfe, die sich dennoch überall in Afrika, von Norden nach Süden, verbreiten, werden aufgehalten, eingeschränkt und unterdrückt; die potentiell fortschrittlichsten Spitzen werden im Einvernehmen und mit der Komplizenschaft der einheimischen Bourgeoisie und der euro-amerikanischen Imperialismen vernichtet, auch physisch.

In all seinen Varianten (einschließlich den sogenannten „sozialistischen“) ist die lokale Bourgeoisie des tatsächlich revolutionären Handelns unfähig. Sie macht zwar einige außerordentliche Versuche, die rückständigen Bedingungen der Vergangenheit, wie auch die unterdrückende Herrschaft des gegenwärtigen Imperialismus zu bekämpfen: Doch an vorderster Front kämpft, mit großer Hingabe und oft allein, das blutjunge Proletariat, das sich in den Bergwerken und in den ersten Fabriken bildet, und die armen, nach Land hungernden Bauern.

Vor Ort orientieren sich die „revolutionären“ afrikanischen Bewegungen an den bereits bestehenden, von den Kolonialherrschern und den späteren Beutegeiern eingeführten Landesgrenzen. Das, was wir “das Aufwachen der farbigen Völker” nannten, ist der mühsame Prozess, der mit dem Ziel der nationalen Befreiung von der imperialistischen Bourgeoisie Massen und größere Organisationen ins Rollen bringt. Dennoch hält die vom Kolonialismus am Reißbrett immer wieder neu gezeichnete und von der Bourgeoisie Afrikas und des Nahen Ostens akzeptierte konfuse Geographie die Ereignisse auf. Die Aufteilung des afrikanischen Kontinents und des Nahen Ostens in unterschiedliche Rollen und Bündnisse, kurz in unterschiedliche Herrschaftsgebiete, bestimmt zuerst der kalte Krieg und später die russisch-amerikanische Entspannungspolitik.


Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, als sich die Auswirkungen der wirtschaftlichen Systemkrise zeigen, kann man die Epoche der Dekolonialisierung Afrikas als abgeschlossen betrachten. Der gegen die einheimische Bourgeoisie und die mit ihr verbündeten imperialistischen Metropolen gerichtete proletarische Klassenkampf in Afrika und im Nahen Osten wird seitdem immer zentraler. Er ist ein wirtschaftlicher Kampf, der die allgemeinen Lebens- und Arbeitsbedingungen verteidigt und den Mangel und Bedarf an einer revolutionären politischen Perspektive dramatisch verdeutlicht. Denn die harten Kämpfe des iranischen Proletariats, die schon vor der Entstehung der sogenannten “Islamischen Republik” ausbrachen, machen aus 1979 einen wahrhaftig historischen Wendepunkt. Dreißig Jahre später breiten sich Brot-Unruhen und große Unruhen in den Textilfabriken, in den Bergwerken und in den Ölfeldern aus; diese werden aber schnell in eine machtlose demokratisch-kleinbürgerliche Sackgasse umgeleitet (der sogenannte “arabische Frühling”, der von 2007 bis 2012 Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien und Yemen betrifft). Man spürt hierin die Anzeichen der gerade stattfindenden radikalen ökonomisch-sozialen Transformation: der offene Konflikt zwischen Proletariat und lokaler sowie internationaler Bourgeoisie. Dass dieser inmitten der zweitgrößten Überproduktionskrise der letzten Nachkriegszeit ausbricht und dass er durch ein allgemeines und lange anhaltendes Massaker unterdrückt wird (Libyen, Syrien, Yemen…), ist dabei sicherlich kein Zufall.


In Folge der Krise der 70er Jahre schuf die Epoche, in der wir uns seit Anfang der 80er Jahre befinden, den Raum für erneute imperialistische Militäreinsätze: Mit dem Iran-Irak Krieg und dem ersten Golfkrieg, später mit den Balkankriegen und dem zweiten Golfkrieg 2003, gewinnen im Nahen Osten, von Syrien bis nach Jemen, Massaker an der Bevölkerung und territoriale Verwüstungen die Oberhand. Hier liegt der Wendepunkt der Migrationsströme: Riesige Menschenmassen fliehen vor Elend, Korruption, Unterdrückung und ununterbrochenen Massakern, die von lokalen Fraktionen und an diesen oder jenen Imperialismus gebundenen Banden von „Legionären“ begangen werden; die Menschen bewegen sich vom ökonomischen Süden in den Norden und Osten der Welt, wobei sie im Mittelmeer massenweise sterben. Im Westen redet man sich den Mund schön mit Worten wie “Globalisierung”, “Automatisierungstechnik”, “Paradigmenwechsel der Zivilisation”… Stattdessen findet eine unglaubliche Erweiterung der weltweiten Ungleichheit statt, d.h. des (vor allem proletarischen) zunehmenden Elends, das, so Marx, wahrhaftiges Produkt des imperialistischen Kapitalismus ist. Auch in Afrika ist ein neuer Akkumulationszyklus im Gange: Während in einigen Gebieten des Kontinents eine neue Entwicklung (in Industrie, Landwirtschaft, Bergbau und Ölindustrie) stattfindet, verarmen andere Orte; die allgemeine Armut nimmt zu, vor allem in bereits stark bevölkerten und kapitalistisch entwickelten Gebieten; ein großer Strom von Untoten durchquert den afrikanischen Kontinent mit seinen Wäldern und Wüsten und wandert wahllos in die verschiedensten Länder aus – ein regelrechter Menschentsunami auf der Flucht vor unmenschlichen Bedingungen.

Die historische Rückständigkeit: natürliche Voraussetzungen und Kolonialisierung

Doch gehen wir erstmal einen Schritt zurück. Eine ethnische, linguistische und ökonomische Karte Afrikas zeigt das Netz zwischenmenschlicher, also gesellschaftlicher Beziehungen, die eine Zivilisation ergeben. In Nordafrika überkreuzen sich die griechische, die römische und die arabische Zivilisation, deren Erbe der vor-kapitalistischen und später der kapitalistischen Entwicklung auf die Sprünge half. Die auf der Atlantikküste, nördlich und südlich vom Golf von Guinea angesiedelten ethnischen Gruppen pflegten engere Kontakte zu den Europäern, als diese die Küsten Afrikas befuhren oder über den Atlantik nach Amerika segelten. In den Gebieten, die sich vom persischen Golf und dem Isthmus von Sues bis zum Indischen Ozean erstrecken, gab es schon seit alten Zeiten Handelswege: Im Horn von Afrika hatte die Zivilisation lange vor der Kolonialisierung eine blühende Wirtschaft. Subsahara-Afrika, u.a. Kongo, spielte seinerseits eine zentrale Rolle im Austausch zwischen den Zivilisationen des Nils, des Horns von Afrika und der Großen Seen. Im Süden spielten andere Ökonomien und andere Menschengruppen eine Verbindungsrolle zwischen dem nördlichen Subsahara-Gebiet (heute: „französisches“ Äquatorial- und Westafrika), in dem Sudansprachen gesprochen werden, und dem südlichen Gebiet, in dem Bantusprachen gesprochen werden. Als erste schufen die niederländischen Händler einige Stützpunkte unter den lokalen Bevölkerungen Südafrikas; auch Kapstadt gründeten sie als Stützpunkt für die Schiffe der Niederländischen Ostindien-Kompanie.

 

Der Artikel, von dem wir hier erneut längere Auszüge veröffentlichen, erschien erstmals in  Nr.12,13/1958 in Il programma comunista und hebt die natürlichen Voraussetzungen hervor, die die historische Rückständigkeit Afrikas im Vergleich zur ökonomisch-politischen Entwicklung Asiens und Europas verursachten. Damals schrieben wir: „Afrika nahm nicht weniger als die restlichen Kontinente Jahrhunderte lang an der sozialen Entwicklung des Menschengeschlechts teil. Wenn der Staat notwendig ist, um die Kluft zwischen Barbarentum und Zivilisation zu überbrücken, so muss man zugeben, dass den Afrikanern die Kunst des Regierens sehr wohl bekannt war, d.h. dass sie, lange bevor Sklavenhändler und Missionare versuchten, den Tropenwald zum Christentum zu bekehren, bereits zivilisiert waren. Blühende Kaiserreiche, nach feudalen Hierarchien aufgebaut, entstanden im westlichen Sudan, an den Küsten des Golfs von Guinea, im Kongo, in Rhodesien […]. Diese staatlichen Gebilde regierten über sehr große Gebiete und über viele Völker; sie hatten Handels- und diplomatische Beziehungen zum gesamten arabischen Afrika und zum Mittelmeerraum; dies bezeugt den hohen Grad der „Produktionstechnik“, der damals in Afrika erreicht wurde. Bevor sie in den kolonialen Galeeren landeten, legten die schwarzen Völker alle dem Kapitalismus vorausgehenden Etappen der Zivilisation zurück: Landwirtschaft, Tierzucht, Industrie, Handel [...]. Natürlich ist Zivilisation ein Prozess, der eng zusammenhängt mit der unbestimmten Erweiterung des Bereichs der sozialen Beziehungen der Menschen. Die Weiterentwicklung der Zivilisation hängt vom Bestehen der Voraussetzungen für häufige, enge Beziehungen zwischen Nationen und Gemeinschaften ab. Und welche Form der Kommunikation lohnt sich mehr als der Seeverkehr? [...]. In Europa und Asien bestanden eben jene natürlichen Bedingungen für den Fortschritt des Seeverkehrs und der damit verbundenen Zunahme des interkontinentalen Handels. Unausweichlich verbreiteten sich im Zuge der Waren Produktionstechniken, d.h. Kulturen. Dank günstiger natürlicher Voraussetzungen konnten sich Europa und Asien dabei die lebendigen Ströme mehrerer Gesellschaften aneignen. Bei den anderen Kontinenten hingegen, Afrika und insbesondre Amerika, das zwischen zwei damals unüberwindlichen Ozeanen eingekapselt ist, waren diese Voraussetzungen zum Großteil nicht gegeben. Deshalb konnte die euro-asiatische Zivilisation schneller vorankommen. Durch ihre soziale Entwicklung erreichten die unterschiedlichen Rassen unterschiedliche Stellungen, und zwar nicht aufgrund unterschiedlicher biologischer Bestimmungen, sondern aufgrund ihrer unterschiedlichen Beziehung zu den natürlichen Vorraussetzungen“.


Die Kolonialisierung Afrikas als “Dissoziationsprozess”


Zu diesen natürlichen Voraussetzungen kommen noch die hinzu, die mit der ökonomischen Entwicklung verbunden sind, die ihrerseits eng mit der Kolonialisierung des afrikanischen Bodens zusammenhängt, welche vom historischen Standpunkt aus keinen Schritt in Richtung Kapitalismus darstellte, sondern einen Prozess, der die Entwicklung noch länger hinauszögern sollte. Entsprechend schrieben wir in einem weiteren Artikel in il programma comunista, diesmal Nr. 1-2 aus dem Jahre 1961: „Marx redet von einer angeblichen Akkumulation des Kapital, weil es sich hierbei um keinen Prozess der progressiven Akkumulation der Produktionsmittel in den Händen der Bourgeoisie handelt, sondern um einen Prozess der Dissoziation […] In Europa bedeutet dieser Prozess die Zerstörung der Feudalität und zugleich die Entstehung des Verhältnisses von Kapital und Lohnarbeit, während er in den afrikanischen Ländern im Wesentlichen ein Auflösungsprozess vorangegangener Gesellschafts- und Wirtschaftsformen ist, der aber keine höhergestellte Produktionsweises einleitet. Der Reichtum, der dort von seinen früheren Herstellern getrennt wurde, macht sich auf den Weg zu den imperialistischen Metropolen, um dort in ungeheuren Massen akkumuliert zu werden. […] Der Imperialismus bemüht sich darum, dass die Kolonien auf der ersten Akkumulationsstufe bleiben, der Stufe der Auflösung lokaler Verhältnisse und deren Aneignung seitens des Kapitals (Trust, ausländische Kompanien). […] Bevor der Prozess der ursprünglichen Akkumulation beginnt, müssen in den Kolonien und in den Metropolen bereits Geld und Waren existieren, d.h. Waren- und Währungszirkulation, mit einem Wort der Markt. In Europa, implizierte der klassische Akkumulationsprozess den Übergang von der Zirkulation zur kapitalistischen Produktion, die Verwandlung des Geldes in Kapital. In den Kolonien begrenzte sich dieser Prozess auf die Warenzirkulation […]: Hier verwandelt keine produktive Lohnarbeit Geld und Waren in Kapital”.

Die jetzigen afrikanischen „Nationalstaaten“ haben also einen komplizierten Entstehungsprozess hinter sich. Wenn wir die Lage 1914 als Ausgangspunkt nehmen (somit lassen wir die Zeit zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert aus, in der Westafrika das Herz des Sklavenhandels nach Amerika war), dann sehen wir, dass Afrika von Nord bis Süd unter den Kolonialmächten aufgeteilt ist. Die Europäer drängen schrittweise in Afrika ein und breiten sich dort aus; Protagonisten der Kolonialherrschaft sind Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Portugal, Spanien, Belgien und Italien. Riesige Gebiete werden besetzt und aufgeteilt, wobei man einzig auf das Vorkommen von Bodenschätzen und landwirtschaftlichen Ressourcen, die man plündern kann, achtet. Kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs gibt es bereits ein britisches Afrika (Ägypten, Sudan, Nigeria, Kenya), ein französisches Afrika (West- und Äquatorialafrika), ein belgisches Afrika (Kongo), ein deutsches (Kamerun, Tansania und Namibia), aber auch ein portugiesisch-spanisches Afrika (Angola) und ein italienisches (Libyen, Somalia, Eritrea). Unausweichliche Folge der Aufteilung in getrennte staatliche Einheiten ist, dass Nationalitäten, Völker, ethnische Gruppen und Stammesorganisationen gespalten werden; oft ergeben sich hieraus künstliche Gegensätze und Konflikte. Die „Zivilisierung“, als welche die Kolonialisierung verstanden wird, rechtfertigt die gegen die Bevölkerung gerichtete ökonomische, soziale, kulturelle und politische Gewalt: eine „Fortschrittsankündigung“!... In einer großen Werbekampagne mobilisiert die europäische Bourgeoisie Soziologen, Philosophen, Politiker, Priester und Wissenschaftler, um ihre erleuchtete Anwesenheit zu rechtfertigen: Die Bourgeoisie werde in Zukunft – so behauptet man – zu großen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften führen... In der Zwischenzeit sorgt sie dafür, dass sich die Überzeugung einer Überlegenheit der weißen Rasse und Zivilisation, d.h. ihr eigener Sozialdarwinismus,verbreitet.

Es handelt sich um eine lange Zeit bürgerlicher, ökonomisch-sozialer Kolonialisierung, die eine moderne Form der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ist und die sich ab Napoleons Feldzug in Ägypten über seinen Code Civil bis hin zum ersten und anschliessend zweiten Weltkrieg durchsetzen wird. Dann kommt für die junge afrikanische Bourgeoisie der Moment, mit Gewalt gegen die kolonialen Bindungen anzukämpfen. Die Entstehung neuer Staaten verlangt in jedem Gebiet den Einsatz starker Organisationen und außerordentlich vieler Freiheitskämpfer. Die abstrakten Ideen der Freiheit, auch angefeuert durch den Panarabismus und den Panafrikanismus, werden für diese Bourgeoisie zu Ideologien, zu universalistischen, ideellen Ansprüchen; dennoch sind sie niemals im Stande, die Hoffnungen der „nationalen Helden“ zu erfüllen und die Massen zu begeistern, im Gegenteil: Im Laufe der Zeit werden sie der Entwicklung des Kapitalismus und demnach der Klassenorganisation des Proletariats im Wege stehen – zu groß ist die politisch-militärische Ungleichheit zwischen den bürgerlichen Akteuren, den einheimischen und den imperialistischen. Die im Entstehen begriffenen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse ebnen der kapitalistischen Entwicklung langsam aber sicher den Weg, begrenzen sie dann aber gleich auf die bloße, elende nationale Ebene. Die imperialistischen Metropolen haben mit allen Mitteln versucht, die Gesellschafts- und Produktivkräfte sowohl auf materieller Ebene wie auch auf der des Überbaus zu blockieren, sie zu hemmen, sie umzulenken, indem sie den Zustand einer ursprünglichen Akkumulation aufrechterhielten, die dazu bestimmt war, nur sehr langsam das merkantilistische Stadium sowie eine gewisse ökonomische Entwicklung zu überwinden, was aber letztendlich gar keine „Errungenschaft des menschlichen Geistes“ ist, sondern ein vom Kampf zwischen der aufkommenden afrikanischen Bourgeoisie und der imperialistischen Bourgeoisie gekennzeichneter Prozess.

Welche Klassen konnten, bei diesen politischen Grundlagen, die „nationale Befreiung“ im Kampfe gegen die imperialistischen Metropolen garantieren? Wären das im Entstehen begriffene afrikanische Proletariat und die große Masse der armen Bauern im Stande gewesen, sich auf der Bühne der Geschichte als Avantgardekämpfer zu behaupten? Und wäre die afrikanische Bourgeoisie zugleich im Stande gewesen, das an der antikolonialen und antiimperialistischen Revolution interessierte, vielschichtige Bündnis der Klassen in eine tatsächlich revolutionäre Richtung zu lenken? Die Antwort, voller dramatischer Konsequenzen, konnte nicht anders lauten als: Nur das revolutionäre Proletariat unter der Führung seiner Partei wäre zu so etwas im Stande gewesen.

Es ist ein Unsinn, von „afrikanischen Nationen“ vor der Dekolonialisierung zu sprechen, genauso wie von „modernen sozialen Klassen“ im engeren Sinne: Diese Kategorien entstehen gleichzeitig. Die Geld- und Handelsformen, die die vor-kapitalistische Epoche prägten, wurden mit Gewalt von außen eingeführt und die Produktionsverhältnisse mit ihren alten Eigentumsformen hielten die kapitalistische Entwicklung auf. Es ging darum, Familien- und Stammesstrukturen, alte und uralte Zivilisationen, Staaten ohne Nation und Organisationen mit keinem anderen Recht als dem Gewohnheitsrecht, aber auch versteifte und festgewachsene Eigentumsformen, die in manchen Fällen mit Gewalt von den Kolonialherren eingeführt worden waren, zu  transformieren. Es war enorm schwierig, durch Agrarreformen (Privat- und Kollektiveigentumsformen) den Übergang von einer kleinen zu einer auf industrielle Entwicklung und Geld basierenden Landwirtschaft zu schaffen. Wie wir wissen, entstanden die europäischen Nationen mit dem Ende des Feudalwesens und ihre Festigung dauerte mindestens vier bis fünf Jahrhunderte: Sie durchliefen die merkantilistische Übergangsphase und jene der Transformation des Finanzwesens und des Handels und dann die Phase der ursprünglichen Akkumulation und die der formellen Unterwerfung der Arbeit unter das Kapital. Daher darf die Langsamkeit und Mühe nicht überraschen, mit der Afrika aus den primitiven, mehr oder weniger feudalen und rückständigen, mehr oder weniger merkantilen Gemeinschaftsformen austritt und sich auf den Weg zur kapitalistischen Struktur und zur modernen Nation macht.

Die starke Hand des modernen Imperialismus, aktiv und grausam, spielte ferner eine negative Rolle in der Herausbildung der “afrikanischen Nationen”: Es mangelte nicht an Konflikten zwischen der im Entstehen begriffenen Bourgeoisie und den alten herrschenden Klassen, an Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen “Verfassungsformen” (Föderalismus und Zentralismus), an Massakern verschiedener Völker, an gegensätzlichen Gelüsten der Großmächte, an modernen Kriegen und an nunmehr reifen Kämpfen zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Die Schnelligkeit, mit der die Dekolonialisierung mit ihren “Nationalhelden” ihren Anfang nahm [Wir wollen einige Namen zitieren, wobei klar sein soll, dass Individuen nur als Symbole gesellschaftlicher Kräfte einen Wert haben: Naguib und Nasser (Ägypten), Burghiba (Tunesien), Lumumba (Kongo), Sankara (Burkina Faso), Ben Bella (Algerien), Neto (Angola), Mandela e Biko (Südafrika), Kenyatta (Kenya), Senghor (Senegal), Nyerere (Tansania), Azikiwe (Nigeria), Nkrumah (Ghana), Cabral (Guinea-Bissau)], verlangte der jungen afrikanischen Bourgeoisie eine große Entschlossenheit ab, die jedoch von jener grundlegenden Fragilität geprägt war, von der wir anfangs sprachen, und vor allem von der Angst eines schnellen Verfalls der verschiedenen Länder in einen verallgemeinerten Zustand des modernen Elends: Aus der Aufteilung in moderne soziale Klassen würde sich kein harmonischer Entwicklungsprozess ergeben, weil der Abstand zwischen Reichtum und Elend mit der Unterdrückung und der Ausbeutung des Proletariats und der landlosen Bauernmassen rasch zugenommen hätte, und mit ihm die Angst vor dem Wachstum des Proletariats, des historischen Feindes der Bourgeoisie.

Antikoloniale Aufstände: proletarische Strategie und Gleichgültigkeit

1953 schrieben wir in einem weiteren Artikel: “Die dieser Bezeichnung würdigen Marxisten weigern sich, gutzuheißen, dass Kolonial- und rückständige Länder die Schande der bürgerlichen Revolution durchmachen müssen, um zum Sozialismus zu gelangen. Sie behaupten offen die Möglichkeit und die Notwendigkeit eines „Sprunges“ vom Vor-Kapitalismus zum Sozialismus in den Kolonialländern Afrikas, Asiens, Ozeaniens, sowie in den Semikolonien und in den rückständigen Ländern Südamerikas. Dieselbe Strategie setzten sich 1848 Marx und Engels bezüglich Deutschlands zum Ziel, und Lenin und die Bolschewiken 1917 bezüglich Russlands. Unerlässliche Bedingung des Sprunges, damals in Deutschland und Russland, heute in den Kolonien und in den rückständigen Ländern, ist der Sieg der Diktatur des Proletariats in den überindustrialisierten kapitalistischen Ländern: Damals England, heute das geographisch-soziale Gebiet, das Europa, einschließlich Russlands, sowie Nordamerika umfasst. Nur wenn man das riesige industrielle Potential dieses Gebiets im Zaume hält, kann die proletarische Revolution die kapitalistische Phase „überspringen“ und den Fortschritt der Wirtschaft und der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Kolonien und in den rückständigen Ländern bewirken.

Und so fuhren wir fort: “Konsequent impliziert diese gigantische Strategie das Prinzip, welches die politische Haltung gegenüber den nationalistischen Aufständen in den Kolonien bestimmen sollte. Wenn die internationale revolutionäre Bewegung den höchsten Kampf gegen die Weltzentren des Imperialismus zur Eroberung der Macht in Europa und Amerika in Angriff nimmt, und wenn der Klassenkampf gegen die kapitalistischen Metropolen stattfindet, wie 1917-20, dann versteht sich von selbst, dass die Kämpfe im imperialistischen Hintergrund, also die national-populären Aufstände in den Kolonien, Teil der revolutionären Strategie der globalen Arbeiterpartei werden, da sie dazu beitragen, den Widerstand des Imperialismus zu schwächen und die Klassenkämpfe zu erweitern. Die siegreiche proletarische Revolution wird, hat sie einmal die kapitalistische Hochburg besiegt, daran arbeiten, dass die verbleibenden kleinbürgerlichen Nationalismen reibungslos liquidiert werden. Und wie? Für einen Marxisten kann die Antwort nur wie folgt lauten: Durch die Eingliederung der endlich von jahrhundertelanger Unterdrückung befreiten Kolonialländer in den “globalen proletarischen Wirtschaftsplan”.

Und, Aufgepasst!, betonten wir: “Man muss sich zwar weigern, die Arbeiterpartei den bürgerlichen Umbrüchen zur Verfügung zu stellen, doch darf man den objektiven Einfluss nicht abstreiten, den ein eventueller Erfolg der Spaltung der kolonialen Vielvölkerstaaten in Einzelstaaten auf den Reifeprozess der Voraussetzungen des endgültigen Sturzes des Kapitalismus hätte. Die Fusion der Völker, ohne die der Sozialismus undenkbar wäre, kann nicht mit bloßen Verfassungsänderungen (Föderation, Konföderation, usw.), sondern muss mittels der Aufnahme und der Auflösung der Volkswirtschaften im globalen Wirtschaftsplan erreicht werden. Dem werden sich die nationalen kleinbürgerlichen Vorurteile entgegenstellen, die in einem gesellschaftlichen Milieu, das von geringer landwirtschaftlicher Produktion und von der Rückständigkeit und der Zerstreuung des Proletariats bestimmt ist, ihren Nährboden finden. Sollte es den rückständigen und den Kolonialländern gelingen, sich von den Metropolen loszulösen, indem sie die Widersprüche des Imperialismus ausnützen, dann müssen diese Umstürze, die es ja auf die kapitalistische Konzentration der Produktionsmittel absehen sowie auf die Schaffung einer nationalen Industrie, die mit den feudalen und patriarchalen Überbleibsel abrechnet, notwendigerweise das eingeborene Proletariat in großen Massen konzentrieren, wodurch neue Rekruten für die zukünftige Revolution entstehen. Andererseits werden die Massen in Folge der Erfahrung einer unabhängigen, nationalen Regierung wohl aufhören, für den Nationalismus zu schwärmen, für den sie die aufkommende eingeborene Bourgeoisie gewann; denn früher oder später wird diese ihr wahres, ausbeuterisches Gesicht zeigen und sich nicht weniger repressiv erweisen als die weißen Herrscher. […] Soll sie doch kommen, die nationale Revolution in Tunesien, Algerien, Marokko, Indochina, Malaysia, soll sie doch kommen, die Beschleunigung der kapitalistischen Entwicklung in China, Indien, Bolivien, Brasilien, usw., wenn der revolutionäre “Sprung” des Kapitalismus (seitens jener Länder) heute unmöglich ist. Heißt das etwa, dass wir Mao Zedong, Nehru oder Paz Estensoro gutheißen? Die Dummen, die dies behaupten, zeigen bloß, dass sie die marxistische Dialektik, für deren Hüter sie sich lächerlicherweise halten, nicht im Geringsten verstehen. Bezeugte die berühmte Maulwurfsstelle, in der sich Marx der graduellen Zentralisierung des bürgerlichen Staatsapparates erfreute, die er für die Voraussetzung einer frontalen revolutionären Attacke des Proletariats hielt, etwa, dass er den sich damals entwickelnden bürgerlichen Totalitarismus bewunderte und unterstützte? Nicht doch! Die Loslösung der Nationalstaaten von den alten, von weißer Vorherrschaft geprägten, imperialen Zusammenschlüssen und die Errichtung einheimischer bürgerlicher Regierungen offenbaren die herrschenden Klassenverhältnisse, beenden das aufständische Bündnis der Klassen gegen die weißen Unterdrücker auf brutale Art und Weise und spielen Nationalstaat und Proletariat gegeneinander aus. Jede Maßnahme, die die Machthaber stärkt, spitzt auch die sozialen Widersprüche zu, führt zum Zusammenschluss von Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen sie und überzeugt breite Massen von der Notwendigkeit der Weltrevolution. Marx ergriff nicht für das dritte Kaiserreich und Napoleon III. Partei, obwohl er sich der ständigen Konzentration der Regierungsmacht seitens der französischen Bourgeoisie erfreute, weil diese das politische Monopol des Kapitalismus entblößte und es dem Proletariat ermöglichte, sich dessen bewusst zu werden. Ebenso ergreifen wir weder aktiv noch passiv Partei für die politischen Akteure, die in den Kolonien und in den rückständigen Ländern den ungeheuerlichen bürgerlichen Staatsapparat aufbauen” (il programma comunista 2/1953).

Als unsere Partei die revolutionären Ereignisse in Asien, Afrika und im Nahen Osten in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit rückte, schlug sie zu Recht, genauso wie 1917 in Russland, die Taktik der doppelten Revolution, d.h. der permanenten Revolution vor. Das war umsichtig: Sie schenkte dem afrikanischen Proletariat, das sich auf die Bühne der Geschichte drängte, ihr Vertrauen und hoffte, dass die Folgen des Stalinismus seinen Kampfinstinkt und sein Klassengefühl nicht aufhalten würden. Doch sie wusste genau, dass dem Proletariat ein Sprung wie in Russland niemals ohne Klassenpartei gelingen konnte. Die Geschichte der kolonialen Befreiungsbewegungen bestätigte, dass das Proletariat Afrikas und des Nahen Ostens wohl die Energie für einen solchen historischen Sprung liefern, diesen jedoch niemals anführen konnte. Die jungen Kräfte der kämpferischen afrikanischen Bourgeoisie, in den kapitalistischen Metropolen ausgebildet, hatten vom Stalinismus nicht den Weg zum Sozialismus erlernt, sondern den „nationalen Weg zum Kapitalismus“, sie waren also schon von der Geschichte „belehrt“ worden. Stalinismus bedeutete eine politische Theorie und Taktik, die den Klassenkampf des Proletariats der bürgerlichen Konterrevolution auslieferte. So erwies sich der revolutionäre Prozess viel schwieriger als jener, den Lenins Russland durchmachte, weil Stalins Konterrevolution die Prinzipien, die Zielsetzungen und die wirtschaftlich-politische Organisation des Proletariats in Trümmern geschlagen hatte. All dies bestätigte, dass die bürgerlichen Revolutionen, wenn einmal ihr Moment gekommen ist, wie es im Laufe der französischen Revolution der Fall war, nicht tatsächlich von der Bourgeoisie gemacht werden, sondern von den Bauern- und Arbeitermassen, von den Enterbten, den Elenden. An diesem Gefühl, an dieser Hoffnung hielt unsere Partei fest, weil der „Baum des Lebens“ (jener aktive, permanente revolutionäre Prozess) reicher sein sollte, als die Theorie eigentlich vorsah. Dennoch wussten wir, dass jene Massen ohne politische Führung, ohne jenen Generalstab, der in der ersten Nachkriegszeit seinen außerordentlichen Wert zeigte, niemals zum sozialistischen Ziel gelangen konnten.

Die mögliche Entfaltung des Klassenkampfes sowie das notwendige Zusammenfließen der internationalen, proletarischen Klassenbewegung und der Bewegung der farbigen Völker in Abrede stellen: Das ist die Gleichgültigkeit, die sich, so schrieben wir 1961 in unserem Artikel, „hinter dem Vorwand“ verbarrikadierte, „dass koloniale Aufstände in ihrem Ursprung und ideologischem (sowie teilweise sozialem) Inhalt bürgerlicher Natur sind und leicht von den zwei entgegengesetzten Lagern des Imperialismus manövriert werden. Hierin liegt die abscheuliche Gefahr der Gleichgültigkeit (die ja auf dem Boden des Klassenkampfes ein Überlaufen zum Feind bedeutet) des revolutionären Proletariats, oder schlimmer noch seiner Partei, die den Radikalisierungsprozess der Kolonialaufstände unterbricht und sie auf ein bürgerliches Programm und bürgerliche Akteure begrenzt; somit wird es möglich, dass die Aufstände vom Großkapital, dass im Weißen Haus oder im Kreml hockt, zynisch ausgenutzt werden. Es ist der Verzicht auf die Mission, die ihnen nicht von Marx, Engels und Lenin anvertraut wurde, sondern von der Geschichte selbst, deren Sprachrohr sie waren, der ein historisch dermaßen relevantes und zukunftsträchtiges Phänomen austrocknet.” (Hervorhebungen in Kursiv hinzugefügt)

Und weiter: „Seit Jahren klopft die grobe Faust der Farbigen fast tagtäglich nicht an die Tür der Bourgeoisie, sondern an jene der Proletarier in den Metropolen. Es ist kein metaphorisches Klopfen, denn, ob sie es wissen oder nicht, reagieren und reagierten die belgischen Proletarier 1961, oder die französischen während der großen Streiks der letzten Jahre, auf die von dem kongolesischen Busch oder dem algerischen Bled ausgehende 'Welle der Unordnungen'. Die Reaktion erfolgt in der zusammenzuckenden Masse der Arbeiterklasse, nicht in ihrer Partei, und wenn, dann ist es eine Reaktion, die im Gegensatz zur großen revolutionären Tradition steht: Es ist die schlappe, demokratische, vermittelnde, diplomatische, patriotische Reaktion, oder die nicht weniger abscheuliche Reaktion einer hochmütigen und herablassenden ‘Gleichgültigkeit’. Bürgerliche Aufstände! Doch das erste Blasen des Kriegshorns in Kongo, sowohl 1945 wie auch 1959-60, erschallte von den riesigen Streiks, die sicherlich keine bürgerlichen, sondern authentisch proletarische waren. […]. Und war der Horizont Februar 1848 und Februar 1917 nicht etwa ein bürgerlicher? Wäre die “erste russische Revolution” nicht etwa dem Imperialismus und dem Krieg zum Opfer gefallen, wenn die Bolschewiken es sich nicht zur Aufgabe gesetzt hätten, sie über ihre Grenzen hinauszuführen, und stattdessen dummerweise in die Hochburg der ‘Gleichgültigkeit’ geflüchtet wären? Das revolutionäre Proletariat im Westen muss Zeit und Boden zurückgewinnen, die es tragischerweise verloren hat, um der Fata Morgana demokratischer Lösungen nachzuhängen, wo es doch um ein Problem geht, das auf globaler Ebene nur die kommunistische Revolution lösen kann. Es kann den Kolonialaufständen nicht das abverlangen, was eigentlich von ihm allein abhängt.”

“Aber auch so – fuhren wir fort – begrüßt es leidenschaftlich die Geschehnisse: auch so, weil sie, einziger Lebensfunke in einer tödlichen Gegenwart, das internationale Gleichgewicht der bestehenden Ordnung aus dem Lot bringen […]; weil sie riesige Volksmassen – proletarische Massen mit eingeschlossen – in die Arena der Geschichte schleudern, Massen die bisher “geschichtslos und isoliert” vor sich hin lebten. Sollten sie auch nichts anderes als bloß bürgerliche Aufstände sein – doch die marxistische Dialektik weigert sich, sie darauf zu reduzieren –, würden sie nichtsdestotrotz die Totengräber des fauligen Westens in ihrer Mitte großziehen; jenes Westens, dessen wohlhabender, dummer und mörderischer Schlaf tiefer ist als der, der vom 'Opium, jener einschläfernden Droge' ausgelöst wird. Sie sind, wie es die Geschichte seit mehr als einem Jahrhundert zur Tradition machte, ihrer selbst zum Trotze Revolutionäre. Und dies ist für die Bourgeoisie und die heutigen radikalen Anhänger der Gleichgültigkeit, sowie für die, die Marx am 14. Juni 1853 in einem Brief an Engels lächerlich machte, sehr shocking, sehr skandalös: nicht aber für uns, nicht für Marxisten, die diesen Namen verdient haben!”.

Die Unabhängigkeit und der sogenannte “nationale Sozialismus”

Aufgrund der Zugehörigkeit zum russischen Lager rühmte sich die Bourgeoisie Afrikas und des Nahen Ostens in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einer „sozialistischen Gesellschaft“, die es aufgrund der erreichten oder angeblich erreichten „Unabhängigkeit“ so nannte; und doch erwies sich diese Bourgeoisie als unfähig, und so ist die Energie neutralisiert worden, die das afrikanische und arabische Proletariat in jenen Jahren hervorbrachte. Unsere Arbeit zur „nationalen Frage“ erörterte Punkt für Punkt die Schande des stalinistischen Verrats. Alle Formen des „afrikanischen Sozialismus“ (in Ägypten, Tunesien, Algerien, Kongo usw.) wogen sich in der Illusion, sich die kapitalistische Hölle ersparen zu können: Das im Entstehen begriffene industrielle und bäuerliche Kleinbürgertum versuchte dem Schicksal zu entkommen, von den aufkommenden Kräften der industriellen Bourgeoisie zerstört zu werden, während die bürgerlichen Parasiten, die Ressourcen und Boden besitzen, fruchtbares Terrain für die Akkumulation der Grundrente und der Kapitalerträge finden.

Ihr „Sozialismus“ war nichts als die Ökonomie der kleinen unabhängigen Bauern und der kleinen Landwirtschaften, die ihre Produkte auf individueller Ebene tauschen und gezwungen sind, entweder elend zu scheitern, oder sich in Richtung zunehmender Differenzierung weiterzuentwickeln: Sie schaffen die großen Staatsanlagen und zugleich die vom großen globalen Industrie- und Landwirtschaftskapital verlangten Monokulturen; außerdem treiben sie den großen Parasitismus des Finanzwesens maximal voran. Nur die enge Verbindung der Arbeiterkämpfe in den Metropolen und in der Peripherie der Welt, in Asien, im Nahen Osten und in Afrika, hätte dem Sozialismus eindeutig seinen Weg zeigen können. Damals schrieben wir, dass die sozialen Klassen Afrikas in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen noch nicht gänzlich differenziert waren: Die gesellschaftliche Entwicklungsstufe war noch vor-kapitalistisch und daher weit unterhalb jener Stufe, auf der sich in jüngster Vergangenheit die Arbeitermassen entwickelten, Fabriken und Arbeiterorganisationen entstanden, die jedoch unfähig waren, die Lebens- und Arbeitsbedingungen adäquat zu verteidigen. Mit der Einführung des Industrialismus und der modernen Arbeitsteilung lernten die afrikanischen Staaten erst später die Annehmlichkeiten einer in entgegengesetzte Klassen aufgeteilten Gesellschaft kennen. Doch es fehlte das aktive revolutionäre Subjekt, die kommunistische Partei, die die Arbeiterrevolution der fortgeschrittenen Länder mit den Kämpfen des afrikanischen Proletariats und der armen Bauern hätte verbinden können, um so den Prozess in Richtung Sozialismus ins Rollen zu bringen. Der Stalinismus hat das afrikanische Proletariat und sogar jenes der imperialistischen Ländern in dem unheilvollen Glauben an ein “sozialistisches” Ghana und Mali gewogen, an ein “sozialistisches” Algerien, Libyen und Ägypten, an ein “sozialistisches” Kongo und Angola.


Die Einführung des sogenannten “Sozialismus” war nichts als eine Frage der “ideologischen Bekenntnisse”, und nicht der großen internationalen Klassenkämpfe. Wurde schließlich nicht auch aus den osteuropäischen Ländern, die wirtschaftlich fortgeschrittener waren als die afrikanischen Länder, und die in Folge der Aufteilung der Welt unter den Siegermächten des zweiten Weltkrieges unter die imperialistische Herrschaft Russlands gerieten, nichts anderes als ein per Erlass entstandener und im Abort gelandeter „sozialistischer“ schlammiger Dreck?

Vorläufiges Fazit

In diesem Artikel haben wir, auf der Grundlage der umfassenden Arbeit, die unsere Partei im Laufe der 50er und 60er Jahre leistete, die wichtigsten Merkmale der geschichtlich-wirtschaftlichen Entwicklung Afrikas nachgezeichnet sowie den langen Zeitraum der in unterschiedlichen Phasen und in einem riesigen Gebiet erfolgten Entfaltung des Prozesses, der ermöglichte, dass die antiken, primitiven und später vor-kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen und -formen in moderne soziale Klassen mündeten (Bourgeoisie, Bauern und Proletariat), die ihrerseits eine neue Produktionsweise ins Leben riefen. Wir haben den historischen Rückstand in der afrikanischen Entwicklung unterstrichen, der auf ungünstige natürliche Voraussetzungen sowie selbstverständlich auf die von der europäischen Bourgeoisie gegen die afrikanischen Völker gerichtete Kolonialisierung zurückzuführen ist, die Versklavung, Unterwerfung und schließlich ökonomische Beherrschung implizierte – die Kolonialisierung war kein Prozess gradueller ökonomischer Akkumulation, sondern ein Dissoziationsprozess, der dazu bestimmt war, ebendiesen Rückstand zu vertiefen. Die antikolonialen Aufstände, die die eingeborene Bourgeoisie (der es an großer, historisch gewichtiger Initiative mangelte) gegen die bereits imperialistische Bourgeoisie der “Mutterländer” führte, nährten sich später vor allem von den Handlungen und der Kraft der avantgardistischen Klassen – der armen Bauern und der Arbeiterklasse –, die auch gegen den kolonialen Opportunismus und der Gleichgültigkeit gegenüber dem Kampfe selbst ankämpfen mussten. Die formale Unabhängigkeit erlaubte ferner die Unterwerfung des Proletariats; der sogenannte “nationale Sozialismus” wurde zum Nährboden des Stalinismus, der jeglichen Versuch eines revolutionären Klassenkampfes ersticken konnte. Das Ende der Epoche des antikolonialen Kampfes, gegen Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, war der Beginn einer langen Zeit (mindestens zwanzig Jahre), in der die Arbeiterklasse anfing, bezüglich der Verteidigung der Lebens- und Arbeitsbedingungen eigene Erfahrungen zu machen.


Zu Anfang des Jahrhunderts (2000-01) und dann ab 2007-08 erzielten die Wirtschaftskrisen ihre ersten starken gesellschaftlichen Auswirkungen in Nordafrika, genauer genommen an der Süd- und Ostküste des Mittelmeers. Hier tauchte erneut ein kämpferisches Proletariat mit jahrzehntelanger Kampferfahrung auf, wie wir in den letzten Jahren oft zeigten. Da nicht nur dort, sondern auch und vor allem in den „fortgeschrittenen“ kapitalistischen Metropolen ein revolutionärer Bezugspunkt fehlt, wurden jene mutigen Kämpfe in die Sackgasse der demokratischen und kleinbürgerlichen Forderungen umgeleitet (eben in den sogenannten „arabischen Frühling“). Das Ergebnis können wir in Libyen, in Ägypten und vor allem in Syrien feststellen, wo seit Jahren ein blutiges Massaker ohne gleichen stattfindet, an dem sich alle Akteure beteiligen. Der „arabische Frühling“ war also das erste Anzeichen von Prozessen, die der gesamten Südküste des Mittelmeers weiter Tod und Zerstörung bescheren werden.

Doch sind die Arbeiterkämpfe nicht beendet: Sie schwelen unter der Oberfläche, unter den Trümmern und Friedhöfen, in denen unheilvolle Illusionen begraben sind, bis sie plötzlich aufflammen und wieder in den Vordergrund treten. Und wir werden sicherlich erneut von ihnen berichten. Vor allem werden wir jetzt und in Zukunft daran arbeiten, dass die Proletarier Afrikas und des Nahen Ostens nicht mehr so allein sind, wie sie es jahrzehntelang gewesen sind, gegen die Komplizenschaft aller bürgerlichen und kleinbürgerlichen, scheinbar sozialistischen oder offen imperialistischen Kräfte der Konterrevolution.